Öffnung der Hochschule als Chance
Tagungsrückblick
Vier Jahre lang wurden im Netzwerk «stark3» Argumente und Guidelines für die Öffnung von Hochschulen für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen entwickelt. Beim Netzwerktreffen an der HfH wird eine positive Bilanz gezogen.
Studium war die Rettung. Er musste Zahnstocher und hölzerne Grillspiesse zählen und in Plastiktüten abpacken. Tag für Tag, das ganze Jahr. Nach der Sonderschule arbeitete Lucien Le in der geschützten Werkstatt einer Stiftung. «Ich war total unterfordert, habe gar nichts mehr überlegt, sondern nur gehofft, dass wir Musik hören durften, damit die Stunden etwas erträglicher waren», erzählt Lucien Le aus seinem damaligen Alltag. Dann hat Le vom «Projekt écolsiv» gehört. Das ist ein spezielles Programm am Institut Unterstrass, bei dem Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung fit gemacht werden für die pädagogische Tätigkeit an einer Schule. Drei Jahre lang studieren sie – zusammen mit allen anderen, die einen Bachelorabschluss machen und später Lehrpersonen werden. «Dieses Studium hat mich gerettet!», ruft Lucien Le vom Podium in den Publikumssaal. Le arbeitet seit seinem Abschluss an einer Stadtzürcher Primarschule und hilft dort in Unterstufenklassen mit. «Assistenz mit pädagogischem Profil» heisst seine Funktion. «Diese Tätigkeit füllt mich voll und ganz aus», sagt Le und blickt selbstsicher in die Runde.
Erfolgreiche Nische. Mit dem «Projekt écolsiv» hat das Institut Unterstrass eine Pionierleistung erbracht. Ziel ist es, Menschen mit einer Beeinträchtigung weiterzubilden, damit diese eine pädagogische Arbeit im ersten Arbeitsmarkt ausüben können. Projektverantwortlicher und Tagungsgast Matthias Gubler, Leiter des Instituts Unterstrass, sagt: «Bis jetzt haben zehn Personen den Studiengang écolsiv abschlossen, und acht davon arbeiten als Assistenzen an Zürcher Volksschulen. Das ist zwar immer noch eine Nische, aber eine sehr erfolgreiche.» Marlen Heimgartner und Luc Huwyler sind zwei dieser écolsiv-Studierenden. Im Video «Anders geworden!» erzählen sie, wie sie die drei Jahre erlebt haben, und was das inklusive Studium an einer Pädagogischen Hochschule mit ihnen gemacht hat.
Anders geworden: Aus dem Alltag von zwei écolsiv-Studierenden
Grundrecht auf lebenslanges Lernen. Noch zu häufig erlebten Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung in unserer Gesellschaft eine systematische Diskriminierung, sagt Cornelia Müller Bösch, HfH-Professorin und Co-Leiterin des Netzwerkes «stark3». Oft gebe es für sie nur praktische Beschäftigungsbereiche, etwa im Handwerk oder der Gastronomie. «Der Zugang zu sozialen Tätigkeiten bleibt ihnen verwehrt, auch wenn sie Interesse und Talent dafür hätten», so Müller Bösch. Und was für andere Menschen normal ist, bleibt für diese Menschen noch immer die Ausnahme: Angebote zur Weiterbildung mit dem Ziel, sich persönlich und beruflich zu entwickeln. «Lebenslanges Lernen ist ein Grundrecht, das für alle Menschen gelten muss», fordert Müller Bösch deshalb.
Hochschulen in sozialer Verantwortung. Was in diesem Zusammenhang die Aufgabe von Hochschulen ist, wird erst auf den zweiten Blick klar. Denn nach allgemeinem Verständnis braucht es für die Zulassung zu einem Studium zwingend eine Matura. «Die Öffnung von Hochschulen für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen ist nicht Selbstzweck», ordnet Carlo Wolfisberg ein. Für den HfH-Institutsleiter dient sie einem höheren Ziel, und das lautet: Teilhabe dieser Menschen an der Gesellschaft. Die Integration in den ersten Arbeitsmarkt spielt dabei eine entscheidende Rolle, ist Carlo Wolfisberg überzeugt. «Wenn wir Menschen wie Lucien Le, Marlen Heimgartner oder Luc Huwyler befähigen wollen, einen echten Beitrag in unserer Gesellschaft zu leisten, dann müssen wir sie auch entsprechend aus- und weiterbilden», so Wolfisberg, «und wenn diese Tätigkeit im pädagogischen Bereich sein soll, dann haben wir als pädagogische Hochschule die Verantwortung, diese Befähigung mit gezielten Weiterbildungsangeboten zu unterstützen».
Ein Chancenprojekt. Genau deshalb haben Projekte wie «écolsiv» eine zentrale Bedeutung, so das Fazit der Podiumsdiskussion an diesem Netzwerktreffen. «écolsiv setzt auf Stärken und Möglichkeiten», sagt Podiumsgast Marianne Binder-Keller, Ständerätin aus dem Kanton Aargau, «und das fördert den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Und darum geht es letztlich.» Deshalb sei es wichtig, dass dieses Netzwerk seine Wirkung weiter entfalten kann. «Wir müssen diese Argumente deutlich formulieren, nur so werden wir gehört», ist die erfahrene Politikerin überzeugt. Aus diesem Grund hat das Netzwerk «stark3» einen Leitfaden mit Argumenten und Qualitätsaspekten zusammengestellt. «Aber in der Umsetzung sind wir noch lange nicht am Ziel», bilanziert David Labhart die Wirkung des Netzwerkes. Der HfH-Professor ist Experte für inklusive Bildung an Hochschulen und hat von Stunde null an am Projekt «écolsiv» mitgewirkt. «Gerade wir als Hochschule für Heilpädagogik können auch fachlich sehr viel profitieren, wenn Menschen mit Beeinträchtigung bei uns studieren und arbeiten», so Labhart.
Steff Aellig und Dominik Gyseler, Wissenschaftskommunikation HfH; September 2024
HfH-Rektorin Barbara Fäh eröffnet die Tagung und betont die Bedeutung des Netzwerkes «stark³».
Eine Netzwerk-Tagung bedeutet Austausch. Barbara Fäh im Gespräch mit Gästen von Tagung und Podium.
Cristina Raissig ist ehemalige écolsiv-Studierende und moderiert durch die Tagung.
Matyas Sagi Kiss ist Vizepräsident der Behindertenkonferenz Zürich und Gast auf dem Podium. Hier im Gespräch mit Cornelia Müller Bösch, Co-Tagungsleitung HfH.
Teilnehmende und Gäste des Netzwerkes «stark³»: Man kennt sich seit Jahren.
David Labhart, HfH-Professor und Co-Leiter der Podiumsdiskussion gibt eine Frage in die Runde.
Co-Tagungsleiterin Cornelia Müller Bösch im Gespräch mit den Gästen.
HfH-Institutsleiter Carlo Wolfisberg (rechts am Tisch) im Gespräch mit Tagungsgästen.
Zahlreiche Fachpersonen sind Teil des Netzwerks «stark³».
Co-Tagungsleiterin Chantal Deuss (HfH) bilanziert die Arbeit des Netzwerkes.
Das Netzwerktreffen «stark3» fand am 6. (online) und 7. September 2024 (vor Ort) an der HfH Zürich statt. Das Netzwerk wird in Kooperation mit dem Institut Unterstrass (PHZH) und in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern (HSLU) durchgeführt. Das Projekt «stark3» wird von swissuniversities gefördert. Netzwerkleitung: Cornelia Müller Bösch und Chantal Deuss, HfH. Podiumsgäste: Marianne Binder-Keller (Ständerätin Kanton Aargau), Andres Rieder, Dr. (Leiter EBGB), Matyas Sagi Kiss (Vizepräsident Behindertenkonferenz Zürich), Franziska Felder, Prof. Dr. (Universität Zürich), Christoph Breier (Universität St. Gallen), Lucien Le (Primarschule Luchswiesen, Zürich). Moderation: Cornelia Müller Bösch, Prof., David Labhart, Prof. Dr. und Cristina Raissig.
Links
- Netzwerk «stark³»
- Leitfaden mit Argumenten und Qualitätsaspekten