Die etwas andere Kindheit

Reportage

Kinder und Jugendliche mit Körper- und Mehrfachbehinderungen wachsen oft in speziellen Institutionen auf. Im Projekt «erd-zam», das Teil des Nationalen Forschungsprogramms 76 «Fürsorge und Zwang» ist, wurde untersucht, welche prägenden Erfahrungen sie dort machten.

Kontakt

Susanne Schriber Titel Prof. em. Dr.

Funktion

Emeritiert/Pensioniert

Carlo Wolfisberg Titel Prof. Dr.

Funktion

Leiter Institut für Behinderung und Partizipation / Professor / Leiter Master Schulische Heilpädagogik 11/19

Hohe Mauern. Generationen von Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderungen wuchsen in speziellen Institutionen auf, ohne dass man viel darüber wusste. Nun sind im SNF-Projekt «Zwischen Anerkennung und Missachtung (erd-zam)» von Susanne Schriber und Carlo Wolfisberg und den beiden wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Mariama Kaba und Viviane Blatter 42 Betroffene zu Wort gekommen. Sie kommen aus der deutsch- und französischsprachigen Schweiz und wurden im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geboren. Damit erzählen sie auch die Geschichte der Entwicklung solcher Institutionen. So einzigartig die einzelnen Biografien sind, es gibt Gemeinsamkeiten: «Alle Betroffenen betonen die Wichtigkeit, Erfahrungen in der schulischen Integration machen zu können», sagt Susanne Schriber. Heute ist dies bei über der Hälfte von körper- und mehrfachbehinderten Kindern der Fall. Zukünftig sollte dies jedoch allen ermöglicht werden, so das Plädoyer der Betroffenen laut Schriber.

Übergang ins Berufsleben mangelhaft. Ebenfalls ein deutliches Bild zeigte sich bei der beruflichen Integration. Der Übergang von der Schule ins Berufsleben wurde als grosser Stolperstein empfunden. «Gerade in der Phase der Berufswahlvorbereitung beschrieben die Betroffenen häufig Situationen der Missachtung», erläutert Carlo Wolfisberg und nennt als typisches Beispiel den Jugendlichen im Rollstuhl, der studieren möchte: «Obwohl er im Gespräch seine Wünsche klar äussert, merkt er schnell, wohin die Reise geht, nämlich in Richtung Büroanlehre.» Im folgenden Video-Interview nennen Susanne Schriber und Carlo Wolfisberg die wichtigsten Befunde des Projekts und ordnen sie ein.

Video-Interview mit Susanne Schriber und Carlo Wolfisberg, HfH. Untertitel sind verfügbar in Deutsch und Französisch.

Physiotherapie auf Augenhöhe. Durch den Einbezug der Jahre von 1950 bis 2010 konnten auch institutionelle Entwicklungen sichtbar gemacht werden. Die grösste Veränderung verorteten die beiden Forschenden in der Physiotherapie. «Früher waren die Kinder einfach nur Objekte, die es zu therapieren galt», sagt Susanne Schriber. Man habe Normen zur regulären motorischen Entwicklung gehabt und auf Teufel komm raus therapiert – egal, wie gross die Schmerzen für die Betroffenen waren. «Heute hingegen nehmen Therapeut:innen diese Kinder wahr und begegnen ihnen auf Augenhöhe.» Unter diesen Voraussetzungen kann auch eher mal akzeptiert werden, dass eine Behandlung manchmal unausweichlich schmerzhaft sein kann, so Schriber.

Im Kontakt zur Familie. Ebenfalls markant verändert hat sich der Einbezug des familiären Umfelds. «Die Zusammenarbeit der Institution mit den Eltern und der Familie ist viel intensiver geworden», sagt Carlo Wolfisberg. So werde etwa nach Möglichkeiten gesucht, damit die Kinder möglichst viel ihrer Freizeit zuhause verbringen können. «Früher war die Trennung aus geographischen oder therapeutischen Gründen über lange Zeit gegeben. Aus pädagogischen Gründen wurde die Trennung zum Teil im Jugendalter von den Institutionen auch mal als Mittel zur Ablösung vom Elternhaus und zur Selbständigkeitserziehung gerechtfertigt.» Inzwischen ist das undenkbar. Spätestens mit der Einführung des Qualitätsmanagements vor zwanzig Jahren hat praktisch jede Institution ein differenziertes Konzept, wie der Kontakt mit den Familien gepflegt werden soll.

Luft nach oben. Diese Beispiele zeigen, dass in den letzten Jahrzehnten markante Fortschritte in der Förderung und Betreuung von Kindern mit Körper- und Mehrfachbehinderungen erzielt wurden. Gleichwohl gibt es noch Luft nach oben. «Die Institutionen wissen zwar häufig genau, was sie ändern wollen, schaffen es aber trotzdem nicht ganz», sagt Carlo Wolfisberg. Man kann sich eine Art Spannungsfeld zwischen Anerkennung und Missachtung vorstellen, in dem die Institutionen arbeiten. Die folgende Grafik zeigt diese Bandbreite in den sieben Lebensbereichen auf, die im Projekt unterschieden wurden.

Man sieht die sieben Spannungsfelder der Institutione zwischen Anerkennung und Missachtung. Die Bereiche sind: Physiotherapie, Ergotherapie, Schule, Ausbildung, Primärfamilie, Betreuung und Freizeit.
Die Grafik zeigt die untersuchten Lebensbereiche. Quelle: Wissenschaftskommunikation, HfH

Beschreibung der Grafik

Die Grafik zeigt die sieben Lebensbereiche, die im Forschungsprojekt untersucht werden. Dies sind:

  • Physiotherapie
  • Ergotherapie
  • Schule
  • Ausbildung
  • Primärfamilie
  • Betreuung
  • Freizeit

Die Institutionen der Körperbehindertenpädagogik befinden sich im Spannungsfeld zwischen Anerkennung und Missachtung, welche zwei Pole bilden. Diese werden für die einzelnen Lebensbereiche folgendermassen beschrieben.

  • Physiotherapie: Behandlung auf Augenhöhe – Sinn und Zweck schlecht erläutert
  • Ergotherapie: Mehr Selbstständigkeit als gemeinsames Ziel – kein oder nur begrenztes Angebot
  • Schule: Integration wird unterstützt und begleitet – Unterforderung im «Schonraum»
  • Ausbildung: Bemühungen der IV-Berufsberatung – kaum Zugang zum ersten Arbeitsmarkt
  • Primärfamilie: viel Familienzeit mit behindertem Kind – Trennung vom Elternhaus
  • Betreuung: professionelle Beziehungsgestaltung – Gewalt und Integritätsverletzung
  • Freizeit: vielfältige Aktivitäten in der Institution – wenig Kontakt mit Peers am Wohnort

Partizipative Forschung. Eine Besonderheit des Projekts war, dass Betroffene als Co-Forscher:innen in den ganzen Forschungsprozess eingebunden waren. Es sind Menschen, die selbst eine motorische Beeinträchtigung haben und in Institutionen, wie sie untersucht wurden, zur Schule gingen. Heute leben sie selbständig und haben akademische Ausbildungen abgeschlossen. Namentlich sind dies: Francesco Bertoli (†), Fabiana Gervasoni, Sébastien Kessler, Nathanaël Lack, Nadja Schmid und Miriam Serafini. Partizipative Forschung nennt sich dies und bedeutet hier, dass die Betroffenen Inputs gaben, welche die Forschenden umsetzten.

So haben die Betroffenen zum Beispiel in Gesprächen am Roundtable mitdiskutiert, mit welchen Fragen sich die Forschenden den zum Teil sehr schwierigen Biografien annähern könnten. Mit Erfolg: «Die Interviews waren fair, sensibel, aufrichtig, aber auch schamhaft – und daher ohne Aufsehen», so die Co-Forscherin Miriam Serafini. «Unsere Forschenden haben offen gefragt, aber nicht nachgebohrt, damit Retraumatisierungen vermieden werden», ergänzt Susanne Schriber. Wie man sich das genau vorstellen kann, erfahren Sie in der folgenden Video-Gesprächsrunde.

Video-Talk mit Co-Forschenden von erd-zam. Untertitel sind verfügbar in Deutsch und Französisch.

Die Reportage bezieht sich auf das SNF-Projekt «erd-zam» (Entre reconnaissance et déconsidération - Zwischen Anerkennung und Missachtung), das von 2018 bis 2023 an der HfH durchgeführt wird. Erfahren Sie mehr in der Kurzfassung des Schlussberichts. Zum Bericht (PDF)

Autoren: Dominik Gyseler, Dr., und Steff Aellig, Dr., HfH-Wissenschaftskommunikation