Einmal gefährdet, immer gefährdet?

Reportage

Vor über 40 Jahren startete eine Studie über Jugendliche, die kurz vor dem Eintritt ins Berufsleben standen. Nun kann gezeigt werden, wie ihr Leben danach verlaufen ist – beruflich, privat, gesundheitlich.

Kontakt

Claudia Schellenberg Titel Prof. Dr.

Funktion

Professorin für die berufliche Integration von Jugendlichen mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen

Annette Krauss Titel Dr. phil.

Funktion

Advanced Researcher

Heute sind die rund achthundert Personen 57 Jahre alt. Damit kommen sie bereits langsam auf die Zielgerade ihrer beruflichen Laufbahn. Als sie im Jahr 1978 zum ersten Mal befragt und getestet wurden, waren sie fünfzehnjährig. Schon rein forschungsmethodisch macht diese Längsschnittstudie Eindruck. «Damals war das eigentlich eine Berufswahlstudie», erzählt Kurt Häfeli, emeritierter Professor und ehemaliger Forschungsleiter der HfH, «viele Jugendliche wollten ins Gymnasium und das Gewerbe hatte zu wenig Lehrlinge. Diese Zusammenhänge wollte man genauer untersuchen.» Den Grundstein zu dieser Studie hat Urs Schallberger gelegt, emeritierter Professor der Universität Zürich. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten haben er und sein Forschungsteam dieselben Personen immer wieder aufgesucht und sie über ihre berufliche und private Situation befragt – insgesamt neun Mal. Man wollte herausfinden, mit welchen Faktoren im Jugendalter der Erfolg und die Zufriedenheit im späteren Leben zusammenhängt.

Die folgende Infografik zeigt den ganzen Studienverlauf im Überblick. In fünf Phasen (oben) wurden die Probandinnen und Probanden insgesamt neunmal befragt und getestet. Auch ihre damaligen Lehrpersonen wurden befragt. Unten in der Grafik sieht man, zu welchen Themen in den jeweiligen Phasen befragt oder getestet wurde. Zur Risikogruppe in der Studie wird gezählt, wer mindestens drei der aufgezählten Merkmale aufweist.

Grafik zeigt den Aufbau der Längsschnittstudie.

Nicht alle der Jugendlichen, die an der Studie teilnahmen, hatten ideale Startchancen für ihr Leben. Häfeli und sein Team konnten insgesamt zwölf Risikofaktoren identifizieren. Und bei ungefähr einem Drittel der untersuchten Jugendlichen konnte eine Kombination von mehreren dieser Risikofaktoren festgestellt werden. Was ist aus diesen belasteten Jugendlichen im späteren Leben geworden? Studienleiter Kurt Häfeli ist überrascht: «Trotz dieser mehrfachen Belastung im Jugendalter sind die Lebensverhältnisse im Erwachsenenalter ausgesprochen gut.» So bekundet der überwiegende Teil eine grosse Zufriedenheit sowohl mit dem Berufsleben (80%) als auch mit dem Privatleben (90%). «Objektive Gesichtspunkte bestätigen dies», führt Häfeli aus, «die meisten der Untersuchten konnten sich beruflich gut situieren, und fast neun von zehn leben in einer festen Paarbeziehung.»

Die folgende Grafik zeigt, welche zwölf Risikofaktoren in der Jugendzeit auftreten und das Leben beeinflussen können – einzeln oder in Kombination.

In der Grafik sind die zwölf Risikofaktoren der Adoleszenz aufgelistet wie tiefe kognitive Fähigkeiten und tiefes Selbstwertgefühl, wenig Leistungsbereitschaft und schlechte physische oder psychische Gesundheit. Auch soziale Verhältnisse und eine ausländische Nationalität gehören zu den Faktoren.

Im Video-Interview mit Steff Aellig erzählt Kurt Häfeli, wie er 1978 als damals junger Forscher die Daten auf Lochkarten übertragen hat, und was ihn dazu bewegt hat, sein Forscherleben lang dieselben Personen zu untersuchen.

Informationen zum Video. Zu Beginn wird der Text «Zürcher Längsschnittstudie «Von der Schulzeit bis zum mittleren Erwachsenenalter», Kontinuität und Wandel» eingeblendet. Dann hört man eine Sprecherin. Der Gesprächspartner ist Prof. Dr. Kurt Häfeli (ehemaliger Forschungsleiter HfH). Das Interview wird geführt von Dr. Steff Aellig (Wissenschaftskommunikation HfH).

Video-Interview mit Kurt Häfeli zur Längsschnittstudie und seiner Motivation

Video-Abspann in Textform

Zürcher Längsschnittstudie «Von der Schulzeit bis zum mittleren Erwachsenenalter», Kontinuität und Wandel

  • Gesprächsgast: Prof. Dr. Kurt Häfeli, ehemaliger Leiter Forschung HfH
  • Gesprächsleitung: Dr. Steff Aellig, Wissenschaftskommunikation HfH
  • Technik, Kamera, Schnitt: Beni Schafheitle, www.pixair.ch
  • Konzeption und Regie: Dr. Steff Aellig und Dr. Dominik Gyseler

Risiken im Jugendalter müssen sich im Erwachsenenalter also nicht unbedingt negativ auswirken. Trotz Belastung gelingt es den meisten, ein ausgeglichenes Leben zu führen. «Dennoch konnten wir feststellen, dass Personen, die Risiken ausgesetzt waren, im Erwachsenenalter subjektiv und objektiv gesehen weniger erfolgreich sind als andere Jugendliche», schränkt Häfeli ein, «spezifische Risikofaktoren wirken sich auf spezifische Aspekte des späteren Lebens aus.» So wirkt sich beispielsweise ein Mangel an Selbstsicherheit deutlich negativ auf die spätere Berufs- und Lebenszufriedenheit aus. Oder: Jugendliche, die nur bei einem Elternteil aufwuchsen, lebten später seltener in einer Paarbeziehung. Und Jugendliche mit sehr geringen kognitiven Fähigkeiten haben häufig tiefe berufliche Positionen inne. «Deswegen sind sie aber keineswegs unzufriedener bei der Arbeit als andere», so Häfeli, «und auch in ihrem Privatleben lassen sich keine Nachteile feststellen.»

Kurt Häfeli hat den Datenschatz, den diese Längsschnittstudie beinhaltet, vom Psychologischen Institut der Uni Zürich an die HfH gebracht. Hier haben dann jüngere Forscherinnen und Forscher den Stab übernommen und die Staffel weitergeführt. Eine davon ist Claudia Schellenberg. Zusammen mit ihrem Team hat sie einen Grossteil der Teilnehmenden 37 Jahre nach der ersten Befragung wiedergefunden und diese im Alter von 52 Jahren erneut befragt.

«Es gibt einen statistischen Zusammenhang zwischen den sozio-emotionalen Kompetenzen von Fünfzehnjährigen und dem späteren Berufserfolg im mittleren Erwachsenenalter», sagt Claudia Schellenberg, «wer also als Jugendlicher kommunikativ und empathisch ist – in unseren Daten stützen wir uns auf die Einschätzung von Lehrpersonen – der bringt es im beruflichen Leben weiter.»

Im Video-Interview erläutert die HfH-Dozentin Claudia Schellenberg die aus ihrer Sicht eindrücklichsten Befunde aus der gesamten Studie.

Informationen zum Video. Zu Beginn wird der Text «Zürcher Längsschnittstudie «Von der Schulzeit bis zum mittleren Erwachsenenalter», Zentrale Befunde» eingeblendet. Dann hört man einen Sprecher. Der Gesprächspartner ist Prof. Dr. Claudia Patricia Schellenberg (Dozentin HfH). Das Interview wird geführt von Dr. Steff Aellig (Wissenschaftskommunikation HfH).

Video-Interview mit Prof. Dr. Claudia Schellenberg zu den wichtigsten Studienergebnissen

Video-Abspann in Textform

Zürcher Längsschnittstudie «Von der Schulzeit bis zum mittleren Erwachsenenalter», Zentrale Befunde

  • Gesprächsgast: Prof. Dr. Claudia Patricia Schellenberg, Dozentin HfH, Institut für Verhalten, sozio-emotionale und psychomotorische Entwicklungsförderung (IVE)
  • Gesprächsleitung: Dr. Steff Aellig, Wissenschaftskommunikation HfH
  • Technik, Kamera, Schnitt: Beni Schafheitle, www.pixair.ch
  • Konzeption und Regie: Dr. Steff Aellig und Dr. Dominik Gyseler

Der Übergang Schule – Beruf ist eine heikle Lebensphase. Hier werden Weichen gestellt, welche Auswirkungen aufs ganze spätere Leben haben können. Für Jugendliche mit einer Risikokonstellation gilt dies ganz besonders, betont die HfH-Forscherin Claudia Schellenberg. «Wenn Jugendliche in diesem kritischen Lebensabschnitt von Eltern und Schule gut begleitet werden, dann gelingt der Einstieg ins Erwachsenenleben meistens ohne gravierenden Probleme – auch wenn verschiedene Belastungsfaktoren temporär in eine andere Richtung weisen», so Schellenberg.

Im Video-Interview betont Claudia Schellenberg die Bedeutung einer guten Begleitung im Übergang Schule – Beruf.

Informationen zum Video. Zu Beginn wird der Text «Zürcher Längsschnittstudie «Von der Schulzeit bis zum mittleren Erwachsenenalter», Risiken beim Berufseinstieg» eingeblendet. Dann hört man einen Sprecher. Der Gesprächspartner ist Prof. Dr. Claudia Patricia Schellenberg (Dozentin HfH). Das Interview wird geführt von Dr. Steff Aellig (Wissenschaftskommunikation HfH).

Video-Interview mit Prof. Dr. Claudia Schellenberg zu Risiken im Übergang Schule - Beruf

Video-Abspann in Textform

Zürcher Längsschnittstudie «Von der Schulzeit bis zum mittleren Erwachsenenalter», Risiken beim Berufseinstieg

  • Gesprächsgast: Prof. Dr. Claudia Patricia Schellenberg, Dozentin HfH, Institut für Verhalten, sozio-emotionale und psychomotorische Entwicklungsförderung (IVE)
  • Gesprächsleitung: Dr. Steff Aellig, Wissenschaftskommunikation HfH
  • Technik, Kamera, Schnitt: Beni Schafheitle, www.pixair.ch
  • Konzeption und Regie: Dr. Steff Aellig und Dr. Dominik Gyseler

In der Zürcher Längsschnittstudie wurden über 800 Menschen vom Jugendalter bis ins mittlere Alter wissenschaftlich begleitet. Ziel war es, allgemeingültige Gesetzmässigkeiten zu entdecken, was «ein gutes Leben» ausmacht. Ein wichtiges Fazit ist: Bei den meisten Menschen kommt es gut. Auch wenn im Laufe des Lebens immer wieder Schwierigkeiten auftreten, so finden Menschen Mittel und Wege, diese zu bewältigen. Und die meisten Menschen schaffen es, sich mit ihrer Situation zu arrangieren und zu einem zufriedenen und ausgeglichenen Leben zu finden – auch wenn sich die objektiven Lebensumstände dieser Menschen zum Teil beträchtlich unterscheiden.

Autoren: Dr. Dominik Gyseler und Dr. Steff Aellig, Wissenschaftskommunikation HfH

Porträts

Wir haben die Möglichkeit erhalten, Einblick in drei dieser Leben zu erhalten. Drei Menschen, die sich persönlich nicht kennen, die aber von 1978 bis heute Teil dieser grossen Studie sind. Sie haben sich bereit erklärt, aus ihrem Leben zu erzählen – von damals bis heute.

Antonietta Ferraioli, Basel, Sachbearbeiterin bei Postfinance

Als Jugendliche wird sie von ihrem süditalienischen Vater streng erzogen, entdeckt durch eine Lehrerin ihr Talent für Zahlen und verliert trotz der schweren Krebsgeschichte ihrer mittleren Tochter nie den Lebensmut.

Gespräch mit Antonietta Ferraioli

Transkript Gespräch mit Antonietta Ferraioli

Antonietta Ferraioli: Wir haben drei Mädchen, ältere Töchter: 37 Jahre, 35 Jahre und 30 Jahre. Sie sind alle drei Lehrerinnen, haben alle drei studiert. Also mit der grossen Hilfe von mir, da ich immer hundert Prozent gearbeitet habe in den letzten Jahren. Das Problem ist einfach unsere zweite Tochter Maria: 1985 ist sie zum ersten Mal erkrankt, und zwar an Krebs. Und jetzt vor zehn Jahren bekam sie Leukämie und musste eine Transplantation bekommen. Von unserer jüngsten Tochter, die jetzt 30 ist, konnte sie Stammzellen erhalten. Zum Privatleben: Wir haben zwei Enkelkinder, die bringen uns ganz grosse Freude. Und wir arbeiten beide noch, mein Mann arbeitet, ich arbeite immer noch. Und alle drei Mädchen haben eine eigene Wohnung, zwei sind verheiratet. Und Maria heiratet dieses Jahr. Im Juli werde ich dann pensioniert. Ich arbeite bei Postfinance. Dort habe ich 1979 begonnen. Und das war immer mein Traumjob, und ich arbeite immer noch dort.

Steff Aellig: Und was genau machen Sie dort jetzt grad?

Ferraioli: In der Dienstleistungsabteilung. Das heisst: Adressänderungen, E-Finance, Kartengeld, aber alles über Computer jetzt.

Aellig: Was hatten Sie für eine Jugendzeit?

Ferraioli: Wir sind eine italienische Familie, wir sind vier Geschwister, hatten ein gutes Leben. Meine Eltern waren nicht reich, aber auch nicht arm. Mein Vater hat gearbeitet, und ich habe gehofft, dass ich so schnell wie möglich arbeiten gehen kann, damit ich meinen Eltern helfen kann. Und das habe ich dann auch gemacht. Denn ich bin die älteste von vier Kindern. Und mit siebzehn ist mein Wunsch in Erfüllung gegangen, dass ich bei «Checkamt» – so hat es damals geheissen, heute heisst es «Postfinance» – arbeiten ging. Ich habe das ganze Geld abgegeben Zuhause, dass wir, meine Geschwister, ein gutes Leben haben. Bis ich dann geheiratet habe.

Aellig: Mich nimmt auch noch Wunder: Was hat es für schwierige Situationen gegeben, für Belastungen, damals in dieser Zeit in Ihrem Leben?

Ferraioli: Belastungen… Es war einfach so: Ich war eine Streberin. Aber dadurch, dass wir Zuhause… Mein Vater wollte nicht, dass wir Deutsch reden. Mein Vater war von der Abstammung her Süditaliener. Er dachte wie viele Ausländer: Wir machen das ein paar Jahre, und dann gehen wir wieder nach Hause. Nach dort, wo wir herkamen, das ist Napoli. Und dann hat er gemeint: Wofür müssen jetzt meine Töchter dieses Deutsch lernen. Einfach eine andere Mentalität, oder.

Aellig: Wie haben Sie sich gefühlt? Wie ist Ihre Integration hier gelaufen?

Ferraioli: Es ist so: Damals, vor 52 Jahren, hatten wir viele Ausländerinnen hier. Und wir haben immer Italienisch unter uns geredet. Und viel hat uns ja nicht gefehlt zum glücklich Sein. Man kam ja nicht in eine Schule, wo man gar nichts verstanden hätte. Sagen wir, eine ganz andere Nation. Es hatte immer Ausländerinnen wie wir, die Italienisch geredet haben. Und dann haben wir einfach nebenher dieses Deutsch noch gelernt, weil wir in deutsche Schulen gingen.

Aellig: Was hatten Sie dort für Lehrer? Haben die Sie unterstützt, oder war das eher schwierig?

Ferraioli: Ich hatte eine Lehrerin, mit der habe ich heute noch Kontakt. Wir sind wie zwei Schwestern, wirklich ganz schön. Sie hat sich auch sehr eingesetzt für uns Ausländerinnen. Auch wenn mein Vater, beim Skilager zum Beispiel, gesagt hat: «Das gibt es nicht. Frauen gehen nirgends hin!» Dann kam sie auch zu uns nach Hause, um mit meinem Papi zu reden. Sie würde auf uns aufpassen. Also, eine richtig ganz liebe Lehrerin. Und durch sie auch bin ich sehr weit gekommen. Denn sie hat immer geschaut, dass es auch uns Ausländern einigermassen gut geht.

Aellig: Inwiefern hat diese Lehrerin sie auch unterstützt bei der Berufswahl, Lehrstellensuche, Übertritt und so?

Ferraioli: Eben, sie hat gewusst, dass meine Stärke Mathematik ist. Also nicht gerade Mathematik, aber Zahlen. Ich liebe über alles Zahlen. Zahlen, Zahlen! Und damals gab es einfach eine Schnupperlehre beim «Checkamt», so hat das früher geheissen. Und dann hat sie gesagt: «Antonietta, willst du dich nicht anmelden hier? Ich sehe, dass du in diese Richtung gehen könntest.» Und seit ich diese Schnupperlehre gemacht habe… Wir mussten ja drei Schnupperlehren bringen, oder. Und als ich diese Schnupperlehre machte, wusste ich bereits: Hier bin ich am richtigen Platz.

Aellig: Wahnsinn. Und sie blieben dann immer bei Postfinance?

Ferraioli: Eben, das ist ja das Schöne. Acht Jahre habe ich gearbeitet, dann ist Maria erkrankt. Und dann habe ich acht Jahre nur die Kinder gesehen. Also, die Krankheit von Maria. Und alle drei grossziehen. Und nach acht Jahren kommt wie durch ein Wunder wieder ein Telefonat. Da habe ich gedacht, ich hör nicht recht. «Da ist Postfinance. Wir brauchen Sie wieder!» Da habe ich gesagt: «Ja, aber ich habe das dritte Mädchen, die geht erst in den Kindergarten. Ich kann jetzt nicht arbeiten kommen.» Es war April. Da haben die gesagt: «Aber Frau Ferraioli, könnten Sie mindestens nach den Sommerferien?» Und ich weiss nicht: Dieses Türchen hatte ich schon lange geschlossen, als Maria erkrankt ist an Krebs. Da habe ich gedacht: Was ist jetzt mit mir los? Und ich habe gedacht: Ja, vielleicht tut mir das ja gut, ein, zwei Tage, oder auch nur Ende Monat zu arbeiten. Oder? Bin wieder in meinem Job, den ich immer so geliebt habe. Und dann habe ich nach den Sommerferien wieder angefangen. Und jetzt sind es 26 Jahre, seit ich wieder arbeite.

Aellig: Wahnsinn.

Ferraioli: Aber es war nicht einfach. Weil, nach acht Jahren habe ich alles auf Papier hinterlassen. Ich hatte zweitausend Kontoinhaber. Postfinance hat damals alles auf Papier gehabt, wir haben mit Papier gearbeitet im 1986. Und als ich im 1994 wieder angefangen habe, hatte ich Computer vor mir!

Aellig: Eine totale Umstellung. Ein einschneidendes Erlebnis war die Krebserkrankung Ihrer mittleren Tochter Maria. Ihr Mann und Sie waren dort ganz junge Eltern, oder?

Ferraioli: Bei der ersten Erkrankung war ich 24 Jahre alt. Und sie erhielt drei Tage Überlebenschance, Maria. Und dort habe ich schon gedacht… Wir waren eine harmonische Familie mit zwei Mädchen. Die älteste war zweieinhalb Jahr alt, dreieinhalb Jahre alt. Mein Mann hat gearbeitet. Ich habe gearbeitet. Es ging gut. Und plötzlich schaut das Leben ganz schlimm aus. Und dann kommt so etwas, dass sie eine Lähmung hatte an den Beinen. Und dann kommt heraus, dass es ein aggressives Neuroblastom ist. Und das hiess, sie könnte in drei Tagen sterben.

Aellig: Und wie alt war sie da, Maria?

Ferraioli: Acht Monate.

Aellig: Ah, als Baby sogar!

Ferraioli: Als Baby, ja. Sie haben damals sofort operiert, als das passierte. Sie wollten den Tumor rausholen. Und dann mussten sie den Bauch aber grad wieder zumachen, weil sie die Operation nicht überstanden hätte. Es ist so: Den Krebs konnte man nie aus ihrem Bauch rausoperieren. Also, Maria lebt noch mit ihrem Krebs. Aber unterdessen – sie wird im Dezember 35 Jahre alt – ist es gutartig geworden. Das Problem ist: Eine Nachfolge dieser Medikamente, die sie bekommen hat, diese Chemotherapie, als sie acht Monate alt war, hat dazu geführt, dass sie mit 25 Leukämie bekommt. Und eine solch aggressive Leukämie, dass sie nur mit der Transplantation ein Leben haben konnte. Und sonst hätte sie mit 25 sterben müssen. 

Aellig: Und dann ist ihre andere Tochter eingesprungen für diese Stammzellengabe?

Ferraioli: Jawohl. Und dann war es so: Als junge Eltern, ich war 24, mein Mann war 25, wir wollten keine Kinder mehr. Und dann im Februar, wie ein Wunder, ist es passiert, dass ich trotzdem schwanger wurde. Also ohne, dass ich es wollte. Und dann habe ich eben Laura bekommen.

Aellig: Was hilft Ihnen, oder hat Ihnen geholfen im Leben, um diese Situationen doch immer zum Positiven zu nehmen?

Ferraioli: Ja, eben: Nur Gott. Wenn ich sehr Kummer habe, dann bete ich nur zu ihm. Und dann fühle ich, dass er wirklich neben mir ist, ja. Und er gibt mir so viel Kraft, um dies zu überstehen.

Aellig: Schön.

Ferraioli: Aber es war nicht einfach, das Ganze zu akzeptieren. Oftmals hatte ich ganz schlimme Tage. Da war mein Mann da als Halt. Oftmals war er ganz unten in einem Loch. Und dann war ich da für ihn.

Aellig: Ja.

Ferraioli: Deshalb sag ich: Ein Leben… Wenn heute jemand sagen sollte: «Frau Ferraioli, hatten Sie ein schönes Leben?» Ich kann nur mit Gott sagen: «Ja!» Obwohl: Zwei schlimme Schicksale – meinen Vater habe ich noch verloren. Es kommen immer solche Momente, wo wir ganz unten waren. Aber durch unsere Liebe, durch unseren Halt, ich und mein Mann mit den Mädchen, konnten wir uns immer ein wenig… Wir haben gedacht: Jetzt ist eine schlimme Zeit, aber es kommt sicher wieder eine gute Zeit. Und wenn dann eine gute Zeit gekommen ist, dann haben wir diese auch genommen!

Peter Zurbrügg, Rüeggisberg, Gemeindeschreiber

Als Kind muss er als einer von fünf Brüdern auf dem elterlichen Hof mithelfen. Er verweigert die Teilnahme am Jungschützenkurs, entdeckt stattdessen seine Liebe zur Musik und findet heute als ambitionierter Orchesterschlagzeuger seinen Ausgleich.

Gespräch mit Peter Zurbrügg

Transkript Gespräch mit Peter Zurbrügg

Peter Zurbrügg: Beruflich, da bin ich wirklich auch zufrieden. Wenn ich manchmal jammere gegenüber der Frau, jammere ich auf hohem Niveau. Manchmal ist es so: Die Funktion in der öffentlichen Verwaltung, wie soll ich dem sagen, ist nicht immer der Beruf, der jetzt am angesehensten ist, als «Gemeindeschreiber». Ist jetzt etwas hart gesagt. Ich bin am wohlsten, wenn ich meinen Job machen kann. Aber eben, die Rückmeldungen, die man erhält, sind vor allem die negativen. Und die, welche zufrieden sind mit meiner Arbeit, die hört man nicht. Der Schweizer ist ja ein bisschen so, der rühmt nicht wirklich. Der sagt: «Es ist nicht schlecht.» Er sagt nicht: «Es ist gut.», sondern nur: «Es ist nicht schlecht.»

Steff Aellig: (Lacht). Das ist tatsächlich so. Wie ist Ihre private Situation, Herr Zurbrügg?

Zurbrügg: Das läuft gut. Wir haben zwei Töchter. 23- und 19-jährig. Die eine fertig mit der Ausbildung, die jüngere kurz vor der Matur. Und da haben wir ein herzliches Verhältnis, mit den Töchtern, mit der Frau. Wir machen auch noch viele Sachen zusammen, Skiferien. Auch wenn die ältere Tochter jetzt ausgezogen ist und mit dem Freund zusammenwohnt. Ich bin hobbymässig – und das relativ intensiv – bin ich musikalisch unterwegs. Ich bin Schlagzeuger, klassisches Orchester mit Chören. Das ganze Instrumentarium, das man so kennt: Kesselpauke, Xylophon über das Triangeln bis zu einem Drum-Set: Ich bin einer von denen. Ich habe das Glück – oder eben der schöne Ausgleich, den ich habe – dass ich viel bei so Projekten mitarbeiten, mitspielen kann, wo es auch Berufsmusiker hat.

Aellig: Ich bin beeindruckt! Blenden wir doch jetzt einmal ungefähr vierzig Jahre zurück, Herr Zurbrügg, in jene Zeit, wo diese Längsschnittuntersuchung, die wir hier begleiten, gestartet hat. Sie waren da fünfzehn. Wie hat Ihr Leben damals ausgesehen?

Zurbrügg: Wir waren sechs Kinder. Wir waren auf dem Land, betrieben Landwirtschaft. Wir gingen sogar im Sommer auf die Alp. Rückblickend muss man sagen: Wir mussten hart arbeiten. Im Sommer ging es vor allem darum, Futtermittel für den Winter zu machen. Für die Kühe; wir haben Heu gemacht. Aber eben: Es hat uns trotzdem an nichts gefehlt. Auch wenn wir fünf Knaben waren und ein Mädchen, und wir die Sachen (Kleider) voneinander nachgetragen haben. Das wurde nicht hinterfragt. Es war sicher streng, aber man hat das nicht irgendwie negativ in Erinnerung. Natürlich, manchmal hat man sich gewünscht: Ein wenig mehr Zeit für sich selbst oder so, das wäre schon… Das hätten wir sicher genommen. Es hat schon Dinge gegeben. Eben, das Musikalische. Der Vater hat bereits Blasmusik gemacht, und dann hat man da mit Trommeln begonnen. Hat aber keine Musikschule und nichts gemacht, das wäre absolut nicht drin gelegen, finanziell. Aber es hat auch gar keine Musikschule gegeben. Man hat sich das selbst beigebracht. Und irgendwann hat man dann trotzdem das Glück gehabt, dass man da…  Also, jetzt in meinem Fall, als man aus der Schule kam, und schon bald kam das Militär. Ich habe damals die Prüfung geschafft, um als Militärmusiker zu gehen, als Schlagzeuger.

Aellig: Ist Ihre Jugendzeit tatsächlich so harmonisch und geradlinig verlaufen, wie es jetzt tönt?

Zurbrügg: Ja, und doch: Man ist dann trotzdem ein wenig ausgebrochen, auf eine Art. Anders als meine Brüder. Angefangen hat es… Bei uns machte man einen Jungschützenkurs. Das Schiessen, diese Vereine, da hat man geschossen. Und das war etwas, das hat mich nie interessiert. Ich hatte drei ältere Brüder, und die haben alle diesen Jungschützenkurs gemacht. Ich als erster nicht.

Aellig: Mich nimmt noch Wunder: Gibt es ausserhalb der Familie Personen, Figuren, die Sie geprägt haben, die für Sie wichtig waren im Leben?

Zurbrügg: Ja, das ist vielleicht ein Lehrer, Oberstufe, der uns – unbewusst – die Augen für gewisse Dinge geöffnet hat. Eben, wir hatten einen Lehrer von der siebten bis zur neunten, und einen von der vierten bis zur sechsten Klasse. Und erstaunlicherweise… Die kenne ich heute noch. Und mit dem Lehrer der vierten bis zu sechsten Klasse, mit dem habe ich später oft zusammen gespielt. Also im Orchester, er hat Streichbass gespielt. Der Lehrer von der siebten bis zur neunten… Das ist ein anderes Hobby von mir: Ich bin viel mit den Tourenski unterwegs in den Bergen, also Skitouren. Ich war gerade Ende Februar, bereits zum dreizehnten Mal, in einer Tourenwoche vom SAC. Diesem Lehrer bin ich kürzlich wieder begegnet. Und der war schon damals Wanderleiter, so Wandertouren. Und jetzt ist er natürlich mit den Schneeschuhen unterwegs. Ich weiss nicht, ich kann nicht sagen, was es ist. Und trotzdem ist es eine gewisse… Ich habe das Gefühl, wir bekamen damals mehr mit auf den Weg als heute, wo man so viele verschiedene Lehrer hat, fast für jedes Fach einen anderen. Wir hatten einfach denselben Lehrer von der siebten bis zur neunten, und dieser konnte einem schon prägen, auch politisch vielleicht.

Aellig: Interessant. Gibt es jetzt über das ganze Leben gesehen auch Krisenzeiten, schwierige Momente, die man bewältigen musste, wo es nicht so einfach gelaufen ist?

Zurbrügg: Ja, das hat es auch gegeben. So Phasen, im 94 war das, da habe ich beruflich eine Krise geschoben, wie man so schön sagt. Ich wusste einfach nicht, was ich wollte. Und das, was ich jetzt mache, wollte ich ganz sicher nicht. Ich hatte zwar die Ausbildung gemacht auf diesem Gebiet:  Gemeindeschreiber. Das mache ich ganz sicher nicht! Und jetzt bin ich es schon 25 Jahre. Irgendwie… Da musste ich kündigen, dort, wo ich war. Da war ich wirklich auch nicht wohl. Und ging dann ein halbes Jahr auf Reisen. Ich wusste einfach nicht, was ich wollte. Ich weiss nicht, wie man das heute nennen würde. Ich ging nach Australien, Neuseeland, habe einen Sprachaufenthalt gemacht. Probiert, trotzdem was draus zu machen. Aber dennoch: Einfach ein halbes Jahr mal nichts gemacht.

Aellig: Was waren so Schutzfaktoren in schwierigen Zeiten, die sie bewahrt haben, oder wieder rausgeführt haben? Kann man das sagen?

Zurbrügg: Ich weiss nicht. Vielleicht waren es diese Freiheiten, die wir einander liessen. Wenn man ein intensives Hobby hat… Man ging Musik spielen, und war dann auch ein wenig auf Distanz. Ich weiss noch, an einem Konzert, hinter der Bühne, da kam eine Kollegin – also heute nicht mehr Kollegin – der Frau, und wollte mir die Kappe schroten und sagte zu mir: «He, du hast Familie, du kannst nicht so. Einfach weder rechts noch links schauen, und irgendwelche Konzerte abmachen und dann auch spielen!» Und, und, und… Vielleicht war es das, dass man einander diesen Freiraum liess. Ich denke, das ist schon noch wichtig. Es ist der Ausgleich. Aber ich habe dann auch gemerkt: Übertreiben darf man es dann auch nicht. Man soll wirklich nur das machen, was einem Spass macht.

Stefan Wildbolz, Grosshöchstetten, Postbeamter

Als Schüler ist er bei jedem Unfug dabei. Von Anfang an will er zur Post – und ist bis heute glücklich in seinem ersten Beruf. Wichtig ist für ihn, einen passenden Platz in der Gesellschaft zu finden. Diese Werte hat er auch seinen Kindern mit auf den Weg gegeben.

Gespräch mit Stefan Wildbolz

Transkript Gespräch mit Stefan Wildbolz

Stefan Wildbolz: Ich bin Jahrgang 63, ja, bin 56 gewesen. Eigentlich glücklich, in dem Sinn. So mit 17, 18 kam ich zur Post. Irgendjemand hat mir das als Schuljunge ins Ohr gesetzt, eine Lehre als Pöstler zu machen. Das habe ich dann verwirklicht, mehr oder weniger. Und bin seit 1980 als Briefträger, Postbote unterwegs, eigentlich immer noch. Und macht mir immer noch Freude. Und dann mache ich seit der Schulzeit Blechmusik. Bin seit ein paar Jahren Präsident der Postmusik Bern, eben auch Blechmusik. Und nebenher noch in einer Bauernkapelle, wo wir zwischen fünfzehn und zwanzig Nasen sind, einfach eine kleinere Formation, die so böhmisch-mährische Musik macht. Das macht mir auch sehr viel Freude. Und mir macht es auch Freude, wenn man anderen eine Freude machen kann. Eben, bei Anlässen oder so. Zur Familie: Meine Frau und ich haben zwei Kinder. Die sind um die Dreissig, oder leicht darüber. Und die sind, wenn man so zurückschaut, sehr gut gestartet in die Gesellschaft rein, in die Berufswelt. Und die sind eigentlich auch zufrieden. Und wir sind auch zufrieden – man hat das ja nicht alles am Leitseil bis hinten raus – dass diese zwei gut herausgekommen sind. Wenn man das so sieht und man zurückschaut, dann freut es einen einfach. Es ist ein schönes Zurückschauen, so.

Steff Aellig: Gibt es in der aktuellen Zeit auch Schattenseiten in Ihrem Leben? Schwierige Situationen, die Sie bewältigen müssten?

Wildbolz: Eigentlich gerade nicht. In dem Sinn sage ich – überspitzt gesagt: Wir sind glücklich, wir sind gesund, wir sind zufrieden. Ich kann auch relativ gut umgehen mit Veränderungen, die auf der Post stattfinden.

Aellig: Blenden wir doch jetzt einmal rund vierzig Jahre zurück, Herr Wildbolz, an den Anfang dieser langen Untersuchung, die wir hier begleiten. Sie waren damals fünfzehn, in der Oberstufe. Wie sah Ihr Leben da aus?

Wildbolz: Es war eine spezielle Konstellation von der Familie her. Wir betrieben einen kleinen Bauernbetrieb. Früher noch – doch daran kann ich mich nicht erinnern – war dieser grösser. Es war ein Betrieb in Lehnschaft. Der ging dann ein. Und von da an ging mein Papa als Hilfsarbeiter in einer Palettenfabrik arbeiten im Nachbardorf. Ich war von vier Knaben der letzte. Und weil wir jeweils am Abend und am Wochenende noch ein wenig Landwirtschaft betrieben, hatte ich eine spezielle Konstellation mit der Mutter. Weil, Mittwochnachmittag, schulfrei, da habe ich mit der Mutter Sachen realisiert. Schulisch, kann ich sagen, da war ich wohl so im oberen Mittelfeld, eigentlich habe ich das gut gemeistert.

Aellig: Und im Umgang mit den Kollegen, mit den Lehrern, was waren Sie für ein «Typ», damals?

Wildbolz: Einfach, wenn irgendwas war, also nicht grober Unfug oder so, aber da war dieser Wildbolz immer dabei.

Aellig: Okay (lacht). Hat es mal Schwierigkeiten gegeben, haben Sie eine Geschichte dazu?

Wildbolz: Ja, ich hatte eine ganz blöde Phase, ich weiss nicht, wodurch diese ausgelöst wurde. Ich hatte während der Schulzeit eine Phase, da habe ich der Mutter Geld geklaut und bin dann am Kiosk Schleckzeug kaufen gegangen. Danach ging ich zur Schule. Und logischerweise war dieses Schleckzeug nichts, das man heimbringen konnte, und musste deshalb vorher vernichtet werden. Und dann habe ich es jeweils geschafft, dass ich soviel von dem Zeugs gegessen hatte, dass mir schlecht wurde. Vielleicht habe ich die erste Lektion noch überlebt, aber spätestens in der zweiten Stunde wurde mir so schlecht, dass mein Schulkollege mit mir rausmusste, weil ich mich übergeben musste. 

Aellig: Okay. Und gibt es sonst noch andere – sagen wir mal – Risikofaktoren in Ihrer Jugendzeit?

Wildbolz: Einem älteren Zimmermann habe ich mal den Jeep gedreht. Und wenn’s wirklich schlimm gekommen wäre, dann wäre dieser Jeep vermutlich direkt in die Kirche reingeprallt, den Hang runter. Man hätte dieses Fahrzeug im Hang drin nicht mehr halten können. Der (Zimmermann) war dann nicht nur begeistert. Aber es ist nichts passiert, in dem Sinn. 

Aellig: Oh, Glück gehabt. Und Rauchen, Saufen, solche Geschichten?

Wildbolz: Mit dem Rauchen war es etwas speziell. Da habe ich mindestens mal probiert. Das ging aber gänzlich in die Hosen. Wir hatten so ein kleines Wäldchen auf dem Schulweg, zwischen Schulhaus und daheim. Ich hatte eigentlich sehr nahe. Und da hat man manchmal jemandem eine Zigarette ausgerissen oder gefragt. Und hinter der grössten Tanne hat man diese dann… eigentlich nicht geraucht, sondern fast durchgehustet. Weil ich hatte das Gefühl, wenn Mama von oben runterschaut per Zufall, dann wäre es ja günstig, wenn ich versteckt wäre. Das war zu der Zeit, als ich auch ins Nachbardorf ging, um das Musikmachen zu lernen. Und dort kam ich dann in den Verein rein. Mit andern zusammen etwas zu erbringen, jetzt, in dem Sinn Musik zu machen. Und das hat mir von Anfang an gut gefallen. Genau.

Aellig: Und von da an hat die Musik Sie durchs ganze Leben begleitet, bis heute eigentlich. Welche Funktion hat dieses Hobby, diese Leidenschaft für Sie heute?

Wildbolz: Einfach, wenn ich Musik mache mit ein paar anderen zusammen, probiere ein Musikstück aufzuführen, oder auch zu üben, dass dann die «gelbe Seite», also die Post angesprochen, den Job angesprochen, im Kopf oder im Hinterkopf nirgends mehr ist während dieser Zeit. Dass das bei mir dieser so genannte Ausgleich darstellt. Und das ist für mein Leben sicher auch prägend, dass man überhaupt so etwas hat. 

Aellig: Gibt es in dieser ganzen Lebenszeit auch Personen, von denen Sie sagen: Die haben mich geprägt, die haben mich weitergebracht? Wegen diesen bin ich der, der ich bin?

Wildbolz: Ich glaube, das hat es sicher gegeben. Also Lehrer, Lehrerschaft hat mich sicher geprägt. Wer sicher auch noch so eine Person war, das war der Chef im Welschland, dieser «Paysan». Zu ihm schaute ich hoch, weil ich es fast nicht verstand: Da war noch ein Grossvater, da war er selber, dann noch ein Junior und eben dann noch dieser Deutschschweizer. Und dass er schon mehr oder weniger im Kopf haben musste – am Morgen, oder vielleicht schon am Abend vorher – wer was arbeiten soll an diesem Tag. Ich konnte fast nicht begreifen, wie das immer aufging.

Aellig: Welche Werte waren Ihnen bei der Erziehung Ihrer Kinder wichtig? In welche Richtung haben Sie sie begleitet?

Wildbolz: Es müsste in diese Richtung gehen, dass man die Kinder erziehen oder begleiten kann, dass sie später gesellschaftsfähig sind. Auch dass sie nicht überfahren werden von einer Gesellschaft, die ein wenig anders tickt, oder in der die Kinder nicht mithalten könnten. Ich habe das Gefühl, das sei schon noch wichtig: Zu spüren, wie eine Gesellschaft funktioniert, und sich seinen Platz da drin zu finden. Und dann auch, dass man sich zu wehren lernt, ohne jetzt grad rebellisch aufzutreten. Aber dass man sagt: Doch, wenn ich etwas nicht verstehe, dann muss ich eine Frage stellen. Dass man auch die Stärke und den Mut hat, nachzufragen. Dass man nicht allwissend sein kann. Aber durch die Erfahrung habe ich schon viele Sachen gesehen, und davon kann ich auch zehren.