Massnahmen, die sich bei Autismus bewährt haben
Tagungsrückblick
Autismus zeigt sich im Alltag ganz individuell. Doch es gibt pädagogisch-therapeutische Massnahmen, die sich breit bewährt haben – in der Frühförderung, in der Schule und bei der Berufsvorbereitung.
Zehn Uhr im Schulhaus, die grosse Pause steht an. Es wird Fussball gespielt, um die Wette gerannt und aufgeregt miteinander gequatscht. Klingt nach Erholung und Spass – aber nicht für alle. «Für viele Kinder mit Autismus sind solche Situationen totaler Stress und mit viel Arbeit verbunden», sagt Britta Schirmer, freischaffende Autismus-Expertin aus Berlin. «Ungefähr so, wie wenn ich gleichzeitig ein Gespräch führe und die Steuererklärung ausfüllen müsste.» Den Grund verortet sie in den Besonderheiten des autistischen Gehirns: Während die grauen Zellen normalerweise Energiespartricks kennen, um schonend durch den Alltag zu kommen, sind Kinder mit Autismus ungeschützt ganz vielen Krafträubern ausgesetzt – wie eben auf dem Pausenplatz. Schirmer betont, solche Wahrnehmungen nicht zu werten: «Wir können diese bestimmte Erfahrung vielleicht nicht teilen, aber aus der Sicht des Betroffenen ist sie richtig.»
Spektrum ist breit. Dieses Verständnis von Autismus ist für Andreas Eckert leitend. «Das Autismus-Spektrum beschreibt eine von vielen Arten, die Welt wahrzunehmen und zu denken», sagt Eckert, einer der Leiter der Tagung «Good Practice bei Autismus». Es ist ein Spektrum, neben Gemeinsamkeiten zeigt sich stets eine hohe Individualität. «Autismus ist bunt», bringt es Eckert auf den Punkt: Die Betroffenen haben unterschiedliche Ausprägungen in ihren Interessen, in der Art, wie sie ihre Emotionen regulieren oder dem Ausmass, wie sie zu repetitiven Verhaltensweisen neigen. In einer Grafik, die kürzlich auf Twitter gestellt und breit geteilt wurde, ist diese Individualität schön aufbereitet.
Beschreibung der Grafik
Auf der Grafik sieht man einen Balken, der in verschiedene Farbfelder unterteilt ist. Der Anfang ist mit «less autistic» (wenig autistisch) und das Ende mit «very autistic» (sehr autistisch) beschriftet. Diese Annahme ist jedoch nicht richtig. Der Titel lautet «The autismic spectrum is not linear» (Das Autismus-Spektrum ist nicht linear).
Das Spinnen-Diagramm darunter zeigt bildhaft und mit verschiedenen Farben auf, wie man sich Autismus vorstellen darf. Es gibt diverse Dimensionen wie «social differences», «interests», «repetitions», «sensory sensitivities», «emotional regulation», «perception», «executive functioning» und «other». Die Auflistung ist nicht abschliessend. Die Ausprägungen für die einzelnen Dimensionen unterscheiden sich bei jeder Person mit einer Autismus-Spektrum-Störung.
Begriffe wie «Asperger», «high functioning» oder «low functioning» sind schädlich und veraltet.
Frühe Förderung. So individuell sich Autismus zeigt, es gibt pädagogisch-therapeutische Massnahmen, die sich allgemein bewährt haben. Dabei gilt: «Je früher eine gezielte Förderung und Unterstützung einsetzt, desto besser für die Entwicklung des Kindes», sagt HfH-Dozent Matthias Lütolf. Auffälligkeiten sind für das geschulte Auge bereits im ersten Lebensjahr zu erkennen, wenn das Kleinkind etwa kaum auf seinen Namen reagiert oder Blickkontakt aufnimmt. Unterstützend sind Methoden wie Verhaltenstherapien oder Visualisierungshilfen. Zentral ist aber der Einbezug der Familie, wie der HfH-Dozent betont: «Die Eltern sollten befähigt werden, den anspruchsvollen Alltag mit einem autistischen Kleinkind zu gestalten und mit ihm in Kontakt zu treten.»
Schulalter. Es geht nur gemeinsam – das ist auch eine zentrale Botschaft von Andreas Eckert. Der HfH-Professor und Leiter der Fachstelle Autismus propagiert die «autismusfreundliche Schule» und hilft an vorderster Front dabei mit, das immer breiter werdende Grundwissen in den Schulhäusern zu vermitteln. Dazu gehören auch konkrete Tipps für den Unterricht: «Verwenden Sie eine konkrete Sprache, schaffen Sie Vorhersehbarkeit, indem Sie Abläufe visualisieren oder reduzieren Sie sensorische Reize durch Gehörschutz und Rückzugsmöglichkeiten», nennt Eckert einige Beispiele. Handlungsbedarf sieht er indes im Bereich der Therapie. So ist etwa das Training sozialer Kompetenzen in Gruppen nachweislich wirksam, es gibt aber in der Schweiz noch zu wenige Angebote. Im folgenden Video-Interview erzählen Matthias Lütolf und Andreas Eckert zusammenfassend, worauf es in der Frühförderung und in der Schule ankommt.
Video: Matthias Lütolf und Andreas Eckert im Gespräch mit Steff Aellig
Berufsvorbereitung. Soziale Kompetenzen sind später auch für einen erfolgreichen Eintritt ins Berufsleben matchentscheidend. «Übergänge sind für junge Erwachsene mit Autismus ohnehin schwierig, weil sie Veränderungen mit sich bringen und Situationen umfassen, die nicht vorhersagbar sind», sagt Carla Canonica, Leiterin der Sonderpädagogik im Kanton Zug. Wie schwierig die berufliche Integration junger Erwachsener mit Autismus ist, zeigt eine Studie in der Schweiz, wonach über die Hälfte von ihnen auf dem geschützten Arbeitsmarkt tätig und 15 Prozent arbeitslos sind. «Wichtig ist ein gutes Zusammenspiel von Schulen, Beratungsstellen, kantonalen Unterstützungsangeboten und Arbeitgebenden», betont Canonica. Und auch hier wird deutlich: Allgemeine Erkenntnisse über «Best Practice» und die spezifische Umsetzung im Einzelfall gehen Hand in Hand, um eine gelingende Förderung und Begleitung anstreben zu können.
Die Tagung «Good-Practice bei Autismus – gelingende Förderung und Begleitung in der Schweiz» fand am 9. September 2022 an der HfH statt und wurde online übertragen.
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Autoren: Dominik Gyseler, Dr. und Steff Aellig, Dr., HfH Wissenschaftskommunikation