Variations- und Varietätenerwerb im alemannischen Raum (LAVA)

Kategorie Projekt

Ausgangslage und Ziele

Das Projekt LAVA (Language Acquisition across Varieties in the Alemannic area) ist ein trinationales Weave-Projekt, das durch die DFG, den SNF und den FWF gefördert wird. 
Während der Spracherwerb in der standarddeutschen Varietät intensiv beforscht wurde, fehlen wissenschaftliche Befunde zum Spracherwerb im schweizerdeutschen (respektive alemannischen) Dialekt weitgehend. Daraus folgend hat das LAVA-Projekt zum Ziel, (1) Meilensteine sowohl im dialektalen (alemannischen) als auch im standarddeutschen Spracherwerb zu erfassen, (2) die Sprachverarbeitung, soziale Bewertung und das Wissen zur Verwendung der beiden Sprachformen zu untersuchen und (3) eine Datenbasis aufzubauen, die mit zwei Sprachformen aufwachsende Kinder dokumentiert.

Projektleitung

Mirja Bohnert-Kraus Titel Dr.

Funktion

Senior Lecturer

Fakten

  • Dauer
    08.2024
    05.2027
  • Projektnummer
    4_60

Projektteam

Finanzielle Unterstützung

Einleitung

In der Schweiz, Deutschland und Österreich werden sowohl Dialekt als auch Standarddeutsch gesprochen. Obwohl sich die beiden Sprachformen Standard und Dialekt in den alemannisch-sprachigen Teilen der drei Länder ähneln, unterscheiden sich die Situationen, in denen die eine oder die andere Sprachform angewendet wird. Beispielsweise ist der Dialekt in der Schweiz sowie in Vorarlberg die Alltagssprache, während Standard nur in spezifischen formellen Kontexten oder mit nicht-dialektkompetenten Personen eingesetzt wird. In der Schweiz können auch mediale Inhalte wie Fernsehen oder Nachrichten in beiden Varietäten genutzt werden, während in Vorarlberg hierfür vermehrt die Standardsprache eingesetzt wird (Christen, 2019; Kaiser & Ender, 2015). In Deutschland wird dagegen der lokale Dialekt zunehmend von einem weiterreichenden Regiolekt abgelöst, welcher die Alltagssprache bildet. Die Medien erscheinen in Deutschland ausschliesslich in der Standardsprache (Kehrein, 2019). Der Spracherwerb im Standarddeutschen wurde bereits gut erforscht. Wie sich die Koexistenz der beiden Sprachformen Dialekt und Standard auf den Spracherwerb, die Sprachverwendung und die soziale Bewertung der Sprachformen auswirkt, wurde jedoch bisher nicht systematisch untersucht (Häcki Buhofer, 2019; Bohnert-Kraus & Kehrein, 2020).
Das LAVA-Projekt hat deshalb zum Ziel, (1) Meilensteine sowohl im dialektalen (alemannischen) als auch im standarddeutschen Spracherwerb zu erfassen, (2) die Sprachverarbeitung, soziale Bewertung und das Wissen zur Verwendung der beiden Sprachformen zu untersuchen und (3) eine Datenbasis aufzubauen, die mit zwei Sprachformen aufwachsende Kinder dokumentiert.

Methode und erwartete Ergebnisse

Um diese Ziele zu erreichen werden insgesamt 540 zwei- bis achtjährige monolingual deutschsprachige Kinder, die mit dem alemannischen Dialekt (und der überdachenden Standardsprache) aufwachsen, in der Schweiz, Deutschland und Österreich untersucht. Bei allen Kindern wird ein Elternfragebogen zum sprachlichen Hintergrund der Kinder, ein Test zur Unterscheidungsfähigkeit der beiden Sprachformen, jeweils ein Test zur phonologischen und zur grammatikalischen Entwicklung, Tests zur Verwendung der beiden Sprachformen und eine Aufgabe zur Einstellung gegenüber der beiden Sprachformen durchgeführt. Für ausgewählte Altersgruppen geht ein vertiefender Ansatz der Frage der schriftsprachlichen Entwicklung sowie der mentalen Sprachverarbeitung und der Analyse von Spontansprachproben nach.

Die Auswertung der Daten wird in 6 Teilprojekten organisiert:

  • P1: Erwerbsverläufe im alemannisch-sprachigen Deutschland
  • P2: Erwerbsverläufe im alemannisch-sprachigen Österreich
  • P3: Erwerbsverläufe in der Schweiz
  • P4: Erwerbsverläufe in der Schriftsprache
  • P5: Spracheinstellungen von Kindern
  • P6: Sprachverarbeitung von Variationen
Basic description A: Dialect, Standard German, Language acquisition D-A-CH: P1/P2/P3. Thematic specialization B: Writing P4, Social evaluation P5, Processing P6

Die Teilprojekte 1, 2 und 3 sollen wichtige Meilensteine im Spracherwerb identifizieren, die von den spezifischen Verhältnissen zwischen Dialekt und Standardsprache in den D-A-CH-Ländern abhängen. Der Fokus der HfH liegt auf dem Working Package 3, welches die Entwicklungsverläufe in der Schweiz unter die Lupe nimmt. Um die Entwicklung der Phonetik-Phonologie zu betrachten, wird insbesondere die entsprechende Testung analysiert. Beispielsweise könnte hier der Erwerb des alveolaren /r/ (also das Zungenspitzen-r) untersucht werden, zu dessen Erwerb es aktuell keine umfassende Untersuchung gibt. Um die Entwicklungsverläufe im Bereich der Grammatik zu untersuchen, werden sowohl die Testung als auch die Spontansprachproben analysiert. Die hier untersuchte Hypothese besagt, dass sich Unterschiede von Dialekt und Standard in der linguistischen Struktur im Erwerb niederschlagen und einige Meilensteine daher zu anderen Zeitpunkten erlernt werden. Dies betrifft beispielsweise die Anpassung von Verben an das Subjekt oder auch den Erwerb der Vergangenheitsformen.

Weitere Fragestellungen im Projekt werden an den Partnerinstitutionen fokussiert. So soll beispielsweise aufgezeigt werden, wie die schulische Bildung den Gebrauch von Dialekt und Standardsprache beeinflusst und welche Auswirkungen der bilektale Erwerb auf das Schreiben hat (P4).

Ebenfalls wird das Projekt voraussichtlich wichtige Erkenntnisse über die parallele Entwicklung der sozial-indexikalischen Bedeutung von Dialekt und Standarddeutsch bei Kindern liefern (P5). Es wird erwartet, dass Kinder, sobald sie in der Lage sind, zwischen den Varietäten zu unterscheiden, beginnen, soziale Bewertungen der Sprachformen vorzunehmen. Dabei wird untersucht, welche sozialen Bedeutungen und Wertungen Kinder mit den regionalen Dialekten und der Standardsprache verknüpfen. Es wird angenommen, dass individuelle Unterschiede in der sozialen Bewertung der Varietäten von Faktoren wie dem Sprachgebrauch der Eltern, der umgebenden Sprachgemeinschaft sowie der variativen Kompetenz des Kindes beeinflusst werden. Das Projekt wird auch aufzeigen, inwiefern Kinder ihre Sprachverwendung bewusst für stilistische Zwecke variieren und welche Rolle die schulische Bildung sowie der Schriftspracherwerb bei der Entwicklung dieser Sprachhaltungen spielen. Über die Zeit hinweg dürften sich unter verschiedenen Bedingungen unterschiedliche Haltungen gegenüber Dialekt und Standardsprache herausbilden, was neue Einblicke in den Einfluss von sozialem Umfeld und Bildung auf die Sprachbewertung liefert.

Zu guter Letzt wird das Projekt voraussichtlich zeigen, dass Kinder, die in verschiedenen Dialekt-Standard-Konstellationen aufwachsen, unterschiedliche Sensitivitäten gegenüber phonetisch-phonologischen Kontrasten zwischen Dialekt und Standardsprache aufweisen (P6). Es wird erwartet, dass allophone Variationen und die Neutralisierung von Phonemkontrasten unterschiedliche Auswirkungen auf die lexikalische Verarbeitung und andere sprachliche Bereiche bei dialektsprechenden Kindern haben. Da die sprachliche Distanz zwischen Dialekt und Standardsprache in den D-A-CH-Ländern variiert, wird das Projekt untersuchen, inwiefern diese Distanz die Verarbeitung beider Varietäten beeinflusst. Es wird davon ausgegangen, dass Kinder aus Regionen mit einer grösseren sprachlichen Distanz zwischen Dialekt und Standard grössere Herausforderungen bei der Verarbeitung dieser Unterschiede haben könnten. Zudem wird das Projekt wertvolle Einblicke in die Mechanismen der Sprachverarbeitung in bivarietären Kontexten liefern, insbesondere in Bezug auf die Frage, wie phonologische und phonetische Merkmale in beiden Varietäten verarbeitet werden.

Diskussion

Die Meilensteine des Spracherwerbs in der Schweiz (P1) werden mit bekannten Meilensteinen des Standarddeutscherwerbs verglichen, um mögliche Unterschiede im Erwerbsverlauf aufzuzeigen. Es wird erwartet, dass unter anderem phonologische und grammatische Entwicklungsmeilensteine (P1) sowie die Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Dialekt und Standardsprache bei Vorschul- und Kindergartenkindern (P5) herausgearbeitet werden. Dabei dürften regionale Unterschiede im Erwerb der Varietäten sichtbar werden. Im Bereich der Phonetik-Phonologie (P1) könnte beispielsweise davon ausgegangen werden, dass das in der Schweiz verwendete alveolare Zungenspitzen-r aufgrund der höheren motorischen Anforderung später erlernt wird als das velare /r/, wie es in der standarddeutschen Varietät gebildet wird. Falls dem so sein sollte, hätte dies möglicherweise Auswirkungen auf den Zeitpunkt der Therapie.
Die im LAVA-Projekt gewonnen Erkenntnisse sind für die Praxis in vielerlei Hinsicht relevant. Im Bereich der Logopädie strebt das Projekt durch den Aufbau einer Datenbasis und die erfassten Meilensteine im dialektalen Spracherwerb mehr Klarheit in der Diagnostik von Kindern an. Durch die aktuell fehlende empirische Grundlage, ist es nicht möglich abzuschätzen, welchen Einfluss die Unterschiede zwischen den Varietäten auf den Erwerb ebendieser haben. Je mehr Wissen dazu vorhanden ist – und dazu wird das LAVA-Projekt beitragen – desto sicherer können Diagnosen in diesem Bereich gestellt werden.

Literatur

  • Bohnert-Kraus, M., & Kehrein, R. (2020). Dialekt und Logopädie. Georg Olms Verlag.
  • Christen, H. (2019). Alemannisch in der Schweiz. Sprache und Raum 4: Deutsch, 246– 279.
  • Häcki Buhofer, A. (2019). 34. Der Erwerb Arealer Sprachvariation. In J. Herrgen & J. Schmidt (Ed.), Volume 4 Deutsch: Sprache und Raum – Ein internationales Handbuch der Sprachvariation (pp. 936–948). Berlin, Boston: De Gruyter Mouton.
  • Kaiser, I., & Ender, A. (2015). Das Spektrum der Sprachvariation im alemannischsprachigen Vorarlberg und im übrigen Österreich: Realisierungen und Kategorisierungen. In Dimensionen des Deutschen in Österreich. Variation und Varietäten im sozialen Kontext (pp. 11–30). Peter Lang Verlag.
  • Kehrein, R. (2019). Areale Variation im Deutschen «vertikal ». Sprache und Raum. Ein internationales Handbuch der Sprachvariation, 4, 121–158.