Sicherheit durch Klarheit – und Klarheit durch Struktur
Reportage
Wie fördert man ein Kind mit Autismus? Im Interview erklärt die Heilpädagogin Maja Schneider, wie sie bei der Förderplanung vorgeht.
Fünf-Frage-Plan. Maja Schneider von der Stiftung Kind & Autismus im zürcherischen Urdorf hat auf der Basis ihrer alltäglichen Arbeit mit autistischen Kindern und Jugendlichen eine Art Fünf-Frage-Plan entwickelt. Dieser Plan kann dabei helfen, den Bedürfnissen und Möglichkeiten eines Kindes auf die Spur zu kommen, indem man bestimmte Fragen stellt, die idealerweise als eine Art Türöffner zur Welt der Kinder mit Autismus dienen. Die Fragen sind aus der Sicht des Kindes formuliert:
- Wie nehme ich die Welt wahr?
- Was passiert mit mir?
- Was spüre ich?
- Was verstehe ich?
- Was interessiert mich?
1. Wahrnehmung
Frau Schneider, man liest häufig, dass Menschen mit Autismus in einer ganz eigenen Welt leben würden. Wie muss man sich das vorstellen? Diese Welt ist in erster Linie geprägt durch ganz andere Wahrnehmungen, als wir sie haben. Es ist natürlich sehr schwierig, sie zu beschreiben. Trotzdem ist es wichtig, zumindest zu versuchen, in diese Welt einzutauchen.
Wie kann man das tun? In der Beratung bitte ich die Eltern häufig, kurz die Augen zu schliessen und sich zum Beispiel vorzustellen, sie seien mitten auf einem belebten Marktplatz. Nun sticht Ihnen die Sonne grell in die Augen, unmittelbar nehmen Ihnen trommelt es ganz laut, Motoren heulen auf – und plötzlich zieht noch dicker Rauch über den Platz. Da stehen Sie nun, Stunde um Stunde. Und dann frage ich: Wie fühlen Sie sich? Also ich fühlte mich vermutlich überfordert, gestresst. Und genau so geht es vielen Menschen mit Autismus im ganz normalen Alltag. Im Unterricht werden solche Kinder dann manchmal als renitent empfunden, sie sind aber vielmehr verunsichert und gestresst. Und sie haben sich mit der Zeit Verhaltensmuster angewöhnt, wie sie dieses Chaos bewältigen können – beispielsweise mittels Stereotypien.
2. Klarheit und Sicherheit
Wie kann man ihnen dabei helfen, dieses Chaos zu ordnen? Hier gibt es für mich zwei zusammenhängende Leitsätze: Sicherheit durch Klarheit – und Klarheit durch Struktur. Ich muss also den Alltag so gut und zuverlässig strukturieren, dass das Kind mit der Zeit Sicherheit gewinnen kann.
Können Sie Beispiele für solche Strukturen geben? Die konzeptuelle Grundlage für eine solche Strukturierung bildet ja der TEACCH-Ansatz. Konkret kann man zum Beispiel mit visuellen Unterstützungen für Abläufe arbeiten. Wenn ein Kind etwa die Milch zum Frühstück will, muss es das dafür vorgesehene Glas in der Hand halten. Oder der Tagesplan wird mit Symbolen gestaltet und gut sichtbar aufgehängt. Wie lange sind solche Hilfsmittel nötig? Es ist also häufig eine lebenslange Aufgabe, sich sicher im Alltag zurechtzufinden. Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen verstehen häufig Abläufe nicht, die andere Kinder schnell verinnerlicht haben – etwa, dass ich die Hand geben sollte, wenn ein anderer mich mit Handschlag begrüssen will.
3. Spüren
Welche Rolle spielt hier die besondere Wahrnehmung von Autisten? Eine sehr wichtige. Autisten sehen, hören, riechen, spüren anders. Häufig empfinden sie über mindestens einen dieser Sinneskanäle wesentlich intensiver als wir. Deshalb arbeiten wir auch manchmal mit Sonnenbrillen, um das Licht zu schwächen oder mit einem Ohrenschutz, um den Lärm zu dämpfen. Das alles gibt ihnen wieder Sicherheit.
Kann man die Umgebung speziell so einrichten, dass man dieser besonderen Wahrnehmung Rechnung trägt? Ja. Ich persönlich glaube, dass das sogar einer der wichtigsten Massnahmen ist. Neben Teppichen, welche die Geräusche mildern und Storen, mit denen das Sonnenlicht nach Bedarf abgeschirmt werden kann, würde ich ganz besonders darauf achten, wie gut die Kinder sitzen. Ideal ist zum Beispiel ein Sessel, der sie so eng umfasst, dass sie sich gut spüren und ihr Körper so zur Ruhe kommt. Einen ähnlichen Effekt kann man mit Sandwesten erzeugen, die sie tragen.
Wie erkennt man, welche Intervention für das einzelne Kind am besten ist? Indem man beobachtet und sich dabei Zeit nimmt. Gehen Sie zum Beispiel zu einem Kind hin, das grad im Stress ist und drücken ihm fest den Arm – wird es jetzt ruhiger oder nicht? Wenn Sie genau hinschauen, geben Ihnen die Kinder ganz viele Hinweise.
4. Verstehen
Wie muss man mit den Kindern kommunizieren? Klar und eindeutig. Präzise. Weniger ist mehr. Und man muss daran denken, dass sie vieles wortwörtlich auffassen und unter Umständen dann sehr verwirrt sind.
Können Sie ein Beispiel nennen? «Ich habe ein Loch im Bauch». Wir sagen das ja, wenn wir Hunger haben – sie starren dann sofort auf den Bauch. Oder «Schlag bitte das Buch auf Seite 8 auf.» Das kann zu merkwürdigen Situationen führen. Das bezieht sich darauf, was man sagt. Können Sie uns auch Hinweise darauf geben, wie man etwas am besten sagt? Ruhig. Und sehr bestimmt, wenn es nötig ist. Auch hier gilt: weniger ist mehr – nicht zu viele unterschiedliche, aber dafür klare Emotionen zeigen.
5. Interesse
Nun haben Menschen mit Autismus ja häufig ausgewiesene Spezialinteressen. Wie soll man damit umgehen? Auch das ist ein zentraler Punkt. Im Gegensatz zu uns sind diese Kinder nicht sozial motiviert, machen also etwas nicht einfach deshalb, weil sie uns damit eine Freude bereiten können. Ihre Motivierung wird zudem erschwert, weil sie sich ja in ihrer ganz eigenen Welt am sichersten fühlen – also auch in dieser Welt der Spezialinteressen. Deshalb ist es wichtig, diese Interessen einzubauen.
Besteht dann nicht die Gefahr, dass die Kinder nicht mehr lernen, sich anzustrengen, Hindernisse zu überwinden? Nur dann, wenn man ausschliesslich so verfährt. Ich würde kombinieren: Zuerst müssen sie eine bestimmte Arbeit bewältigen, dann dürfen sie sich ihrem Lieblingsthema widmen. Wenn – dann, das ist ein wesentlicher Bestandteil vom TEACCH-Ansatz. So lernen sie, lustvoll zu lernen.
Interview: Dr. Dominik Gyseler und Dr. Steff Aellig, Wissenschaftskommunikation HfH
Dokumente
- Interview mit Maja Schneider