Hinter die Fassade von Verhaltensproblemen blicken
Reportage
Wenn Lehrpersonen herausfinden, was hinter herausforderndem Verhalten steckt, können sie diese Kinder besser unterstützen. Das ist die Grundidee des Mentalisierens. An der HfH fand ein Training mit Teilnehmenden aus Deutschland, Österreich und der Schweiz statt.
Das Kind besser verstehen. Wo normalerweise kleine Kinder klettern und rennen, stehen sich an diesem Samstagvormittag zwei Erwachsene wortlos gegenüber. Als die eine Person ihre flache Hand an die Stirn hält, sie zu einer Faust ballt und die Augen zusammenkneift, tut es ihr die andere Person gleich. «Aggression», sagt diese dann mit leicht fragendem Unterton. Um sich sofort zu korrigieren: «Nein, du bist frustriert.» Genau darum geht’s in dieser Übung im Bewegungsraum der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich: Herauszufinden, was das Gegenüber fühlt, seine Perspektive zu übernehmen, empathisch zu sein. Das alles sind Facetten des Mentalisierens. «Wenn Lehrpersonen mentalisieren, können sie besser verstehen, was wirklich hinter der Fassade des herausfordernden Verhaltens eines Kindes steckt», sagt HfH-Professor Pierre-Carl Link, der dieses Training mit Teilnehmenden aus Deutschland, Österreich und der Schweiz organisiert hat.
Verantwortliche des Mentalisierungstrainings im Gespräch mit Dominik Gyseler (Wissenschaftskommunikation, HfH).
Bahnbrechender Ansatz. Federführend entwickelt wurde das Konzept vom englischen Psychologen und Psychoanalytiker Peter Fonagy. Und es hatte weitreichende Folgen. «Die Verbreitung des Mentalisierens war bahnbrechend für Menschen, die in Folge eines Traumas schwer belastet waren», sagt Tobias Nolte, der mit Fonagy in London forscht und lehrt. «Für diese Gruppe hat es vorher kein ausreichendes Therapieangebot gegeben», so der Psychoanalytiker. Darüber hinaus habe es sich schnell gezeigt, dass der Ansatz auch in angrenzenden Fächern, in denen Beziehungsarbeit wichtig ist, niederschwellig anwendbar sei, etwa in der Pädagogik. Gerade die Dynamik im Umgang mit Kindern, die herausforderndes Verhalten zeigen, lasst sich damit besser verstehen, erforschen und behandeln.
Im Stress brechen alte Muster hervor. Aber «lesen» Menschen das Gegenüber nicht ganz automatisch? «Klar, wir alle tun dies im Alltag meist intuitiv», sagt Psychotherapeut Holger Kirsch von der Evangelischen Hochschule Darmstadt. Aber diese Reflexionsfähigkeit breche unter Stress schnell zusammen, was besonders in psychosozial anspruchsvollen Berufen wie in der Heilpädagogik der Fall sein könne. «In schwierigen Situationen kann die Perspektive des anderen nicht mehr eingenommen werden, worauf es schnell eskalieren kann», so Kirsch. Um solche Herausforderungen bewältigen zu können, brauche es eine reflexive, geschulte Praxis, also «ein bewusstes Üben des Mentalisierens». Was konzeptuell häufig vergessen wird: Es geht nicht nur um das bessere Verstehen des Gegenübers, sondern auch um die Gefühle, Bedürfnisse und Überzeugungen, welche dem eigenen Handeln zugrundeliegen, wie dies die nachfolgende Grafik veranschaulicht.
Zur Beschreibung der Grafik
Wenn die Lehrperson mentalisiert, schaut sie hinter das Verhalten und sie stellt sich die folgenden Fragen:
- Warum nervt mich die Provokation?
- Wäre ich bei anderen auch genervt?
- Welche Körpersprache habe ich?
- Wie könnte ich sonst noch reagieren?
Bezogen auf das provozierende Verhalten des Kindes stellt sich die Lehrperson weitere Fragen:
- Warum provoziert er mich?
- Welches Bedürfnis steckt dahinter?
- Was sieht er gerade in mir?
- Hat er Stress in seinem Lebensalltag?
Immer weiter verbreitet. Mittlerweile ist das Training in einer Reihe von Hochschulen im deutschsprachigen Raum fest verankert. «Die Mentalisierungstheorie hat sich überall dort bereits durchgesetzt, wo psychodynamische Psychotherapie beforscht und gelehrt wird», sagt der Sonderpädagoge Stephan Gingelmaier von der PH Ludwigsburg. In der Pädagogik sei man noch nicht gar so weit. In Deutschland sind es aber laut Gingelmaier dennoch bereits 15 bis 20 Hochschulen, die den Mentalisierungsansatz in Lehre und Forschung etabliert haben, «wobei es einen Fokus in der Heil- und Sozialpädagogik gibt». In der Schweiz heben sich die HfH in Zürich und die PH Luzern hervor. Die internationale Arbeitsgruppe MentEd hat sich ambitionierte Ziele gesetzt. Letztlich arbeitet sie darauf hin, ein theoretisch innovatives und empirisch überprüftes Konzept für viele Fragen der aktuellen Pädagogik bereitstellen zu können.
Wirksamkeit in der Schule untersuchen. Während die Wirksamkeit des Mentalisierungstrainings im klinischen Kontext belastbar nachgewiesen wurde, steckt die empirische Überprüfung in der Pädagogik und Heilpädagogik noch in den Kinderschuhen. Erste Konturen sind allerdings erkennbar. «Bei den Trainings in Deutschland zeichnet es sich ab, dass sich die Reflexionsfähigkeit und Achtsamkeit der Studierenden verbessern», sagt Pierre-Carl Link. Auch gebe es Hinweise darauf, dass Teilnehmende des Trainings auf komplexere Erklärungsmodelle zurückgreifen, wenn sie mit Kindern und Jugendlichen in der Schule zu tun haben. Und schliesslich berichten die Teilnehmenden von weniger Stress in herausfordernden Situationen. «Das sind schon mal vielversprechende Trends», so Pierre-Carl Link. Wie hoch die Wirksamkeit des Trainings ganz konkret bei Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensproblemen ist, wird aktuell untersucht.
Das Mentalisierungstraining fand im März 2024 an der HfH statt und wurde von Prof. Pierre-Carl Link geleitet. Vorher traf sich die Gruppe bereits im Oktober 2023. Dazwischen fanden fünf Online-Supervisionseinheiten in Kleingruppen sowie asynchrone Lehr-Lern-Vermittlungen vor den Präsenztrainings statt. Kooperationspartnerin ist das Movetia-Projekt MentEd.ch – Bringing mentalisation-based education to Switzerland (022-1-CH01-IP-0046).
Autoren: Dominik Gyseler, Dr., und Steff Aellig, Dr., HfH-Wissenschaftskommunikation, Mai 2024
Links
- Publikation
Mentalisieren in der Psychomotoriktherapie (erscheint am 24. November 2024)