Wissenschaft und Praxis: Näher als man denkt
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Ihre Fälle kennt eine Logopädin gut. Wissenschaftliches Denken hilft ihr, die eigene Wahrnehmung in der Praxis besser einzuordnen, sagt Jürgen Kohler im Gespräch über sein Buch «Wissenschaftlich denken und handeln in der Heil- und Sonderpädagogik».
Steff Aellig: Jürgen Kohler, welche Farbe hat Wissenschaft für dich?
Jürgen Kohler: Vielfarbig, bunt. Wissenschaft hat so viele Aspekte – und ist deshalb spannend.
Wäre es nicht auch mit dem Titel deines Buches etwas spannender gegangen?
(lacht) Wissenschaft ist halt kein Begriff, der von aussen gesehen «fancy» klingt. Aber der Untertitel könnte den Zugang ebnen, dieser lautet «Zur Gemeinsamkeit von Forschung und Praxis».
Na ja. Zwischen den Buchdeckeln liegen satte dreihundert Seiten mit zwölf Kapiteln. Das riecht ein bisschen nach einer Mission. Welche ist es?
Es ist vielmehr eine Vision. Der Antrieb für dieses Buch war für mich, die Kluft zwischen Praxis und Wissenschaft kleiner werden zu lassen. Wenn Berufspraktiker:innen mit den Akademiker:innen an einem Strang ziehen, dann profitieren beide Seiten – und damit letztlich die Sache.
Ich brauche ein Beispiel für diese Kluft? Wo zeigt sich diese?
Ein grosses Problem der Wissenschaft ist ihre Sprache. Wenn man als Praktiker:in die Begriffe und Konzepte nicht versteht, fühlt man sich komplett ausgeschlossen. Es braucht eine Übersetzung – und das soll dieses Buch leisten.
Geht es noch konkreter?
Nehmen wir das Konzept der «Reliabilität» als eines der Gütekriterien im wissenschaftlichen Handeln. Was ist das genau?
Zuverlässigkeit, Genauigkeit, oder?
Ja, das hast du vermutlich mal auswendig gelernt. Aber verstehst du auch wirklich, was dahintersteckt? Mit Studierenden bauen wir an einem Vormittag mit einfachen Aufgaben eine kleine Studie nach. Das Experiment: Zungenbrecher so schnell wie möglich aufsagen. Wir messen die Zeit, zählen die Fehler. Je nachdem welches Zeitmessgerät man nimmt, wird die Messung mehr oder weniger genau – und schon haben wir eine Veranschaulichung für Reliabilität. Dabei zeigen wir den Studierenden so nebenbei: In der Forschung kocht man auch nur mit Wasser, vieles ist Knochenarbeit und Fleiss.
OKay, und was ist das Ziel?
Letztlich geht es in der Wissenschaft um Erkenntnisgewinn, der verallgemeinerbar ist. Wenn eine Logopädin während der Laufbahn hundert Kinder mit LRS gesehen hat, dann hat sie zwar auch eine Vorstellung davon, was LRS ist. Aber diese Vorstellung ist immer noch stark geprägt vom subjektiven Erleben.
Aber das ist nicht per se negativ, oder?
Nein, natürlich nicht, aber dieses Wissen ist nicht allgemeingültig, nicht objektivierbar. Das wird es erst durch den Vergleich von unterschiedlichen Einschätzungen, durch eine breite Datenbasis. Und eine Praktikerin muss sich meines Erachtens dieser Unterschiede bewusst sein. Hier meine eigene subjektive Wahrnehmung, dort deine – und da drüben dann die wissenschaftliche Sicht auf ein Phänomen.
Jürgen Kohler will mit seinem neuen Buch eine Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis bauen.
Das Buch ist in der Verlagsgruppe Beltz im April 2022 erschienen. Es umfasst 322 Seiten und kostet rund CHF 25.
Also geht es in deinem Buch darum, der Praktiker:in das wissenschaftliche Denken zu erklären. Du hast aber gesagt, auch die Wissenschaft könne profitieren?
Das ist so, auch wenn sich das Buch grundsätzlich an die heil- und sonderpädagogische Praxis richtet. Die Wissenschaft profitiert dahingehend, dass sie erkennen kann, in welchen Bereichen sie sich verständlicher ausdrücken muss, wenn sie die Praxis erreichen will.
Wo zum Beispiel?
Ganz klar: an Tagungen. Die Referate sind oft zu akademisch. Da werden einem Folien mit Kennwerten aus Studien um die Ohren geschlagen. Das versteht man erstens kaum und zweitens fehlt vielfach der Bezug zur Praxis. Hier muss sich die Wissenschaft deutlich mehr anstrengen, wenn sie von der Praxis ernst genommen werden will.
Ich weiss nicht, ob sie das wirklich will. Aber zurück zu deinem Buch, Jürgen: Es ist seit gut einem Jahr erschienen. Bist du zufrieden mit dem Verkauf?
Könnte besser sein, ehrlich gesagt. Den Download des E-Books nicht mitgerechnet wurden bis jetzt so knapp 300 Exemplare verkauft.
Also: Jetzt hast du die Möglichkeit für einen Werbespot. Wieso sollen Studierende und Praktiker:innen dein Buch kaufen?
Sie bekommen die reelle Chance, Wissenschaft besser zu verstehen. Zu erkennen, dass dieses Denken gar nicht so weit weg ist, sondern viel mit ihrem Handeln in der Praxis zu tun hat.
Sind Sie interessiert? Das Buch können Sie online bestellen. Zum Buch
Autoren: Steff Aellig, Dr. und Dominik Gyseler, Dr., HfH Wissenschaftskommunikation (April 2023)