Die Analyse der Spontansprache ist, neben der Verwendung etablierter psychometrischer Tests, eine bewährte Vorgehensweise in der Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern.
Spontansprachanalysen können, anders als Testverfahren, problemlos wiederholt und beliebig oft durchgeführt werden. Damit erweisen sie sich als ideales Instrument für wiederkehrende Erhebungen kindlicher Sprachleistungen. Die Erhebung und Transkription solcher Proben, so wie ihre Kriterien basierte Auswertung sind mit hohem Zeitaufwand verbunden. Aus diesem Grund wird deren Potential in der Praxis nur ansatzweise genutzt.
In der Diagnostik können digitale Techniken helfen, eine datengestützte und effiziente Befunderhebung zu gewährleisten. Digitale Diagnostikinstrumente reduzieren den Aufwand der Auswertung und ermöglichen durch wiederholte Anwendung Verlaufskontrollen und dadurch eine Evidenzsicherung der Therapie (vgl. Hönig & Nöth 2017; Senn Baumgartner 2022).
Eine computerbasierte Sprachanalyse verspricht eine höhere Zuverlässigkeit bei der kriterienorientierten Beurteilung der Spontansprache und verringert den Transkriptions- und Auswertungsaufwand wesentlich. Auf diese Weise werden in Bereichen der Diagnostik, in welchen normierte Verfahren nur begrenzt aussagekräftig sind, wie z.B. bei Mehrsprachigkeit, bei älteren Kindern und Jugendlichen oder bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen Einschätzungen von Fachpersonen gestützt.
Der isolierte Einsatz normierter Tests führt beispielsweise bei Kindern mit nicht deutscher Erstsprache oftmals zu keiner validen Diagnostik, da ihre Normen sich auf einsprachige Kinder beziehen (vgl. Scharff Rethfeldt 2020; Grimm & Schulz 2013). Die diagnostische Schwierigkeit liegt in der Abgrenzung sprachlicher Interferenzen oder Lernersprachen vom Erscheinungsbild einer Sprachentwicklungsstörung.
Aus diesem Grund wird versucht, eine Sprachentwicklungsproblematik am Nachweis von Leitsymptomen, sogenannten psycholinguistischen oder klinischen Markern, festzumachen. Damit sind sprachliche Auffälligkeiten gemeint, die bei den weitaus meisten Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen in der Spontansprache beobachtbar sind. Die Suche nach solchen Markern hat zum Ziel, diagnostisch zuverlässige sprachliche Indikatoren für die Erkennung von Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern mit Deutsch als Zweitsprache zu finden (vgl. Rothweiler, Chilla & Clahsen 2012; Ruberg et al. 2019).
Neuere Ansätze der automatisierten Sprachverarbeitung sind zunehmend in der Lage, ausgehend von sprachlichen Datensätzen digitale Lösungen für Spracherkennung und Textanalyse auch im Bereich der Sprachdiagnostik anzubieten. (vgl. Solorio 2013; Beltrami et al. 2018; de la Fuente Garcia et al.2020; Prud'hommeaux et al. 2014; Rigas et al. 2020).
Bisher gibt es allerdings nur wenige Studien im deutschen Sprachraum, die sich mit der computerunterstützten Erfassung und Analyse von kindlicher Sprache im Allgemeinen und bei Sprachentwicklungsstörungen im Besonderen befassen. Ein Grund dafür ist, dass sich die automatisierte Transkription je nach Ausgangssprache schwierig gestaltet. Dies ist beispielsweise bei kindlicher Sprache, Dialekt oder fehlerhafter Sprache der Fall. (vgl. Senn Baumgartner 2022).
Hier setzt DigiSpon an und verfolgt in einem ersten Projekt zwei Ziele:
- Die Entwicklung und Erprobung des Prototyps einer Pipeline zur semi-automatisierten Transkription und Analyse kindlicher Spontansprache in Hoch- und Schweizerdeutsch für die Praxis
- Eine explorative Analyse vorliegender Spontansprachdaten mit Hilfe der Pipeline
Als längerfristiges Ziel soll mit Hilfe des maschinellen Lernens auf der Basis umfangreicher, mit der entwickelten Software erhobenen Spontansprachdaten die empirische Grundlage zum Wissen über Sprachentwicklung und Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern in der deutschen Schweiz erweitert und für die Praxis nutzbar gemacht werden.