Inklusive Bildung an der Hochschule

Netzwerk

Im Netzwerk «stark3» entwickeln wir Argumente und Guidelines für die Öffnung von Hochschulen für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen.

Kontakt

Cornelia Müller Bösch Titel Prof.

Funktion

Professorin für Bildung bei kognitiver Beeinträchtigung

Chantal Deuss Titel lic. rer. soc.

Funktion

Senior Consultant

«stark3» ist eine Kooperation der HfH mit dem Institut Unterstrass (PHZH) in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern (HSLU) und wird von swissuniversities finanziell unterstützt. Im Netzwerk «stark3» machen wir uns in drei Punkten stark:

  • lebenslanges und gemeinsames Lernen von Menschen mit und ohne kognitive Beeinträchtigung
  • Hochschulen als Anbieterinnen von Bildung und Arbeitsplätzen
  • Arbeitsplätze für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung im ersten Arbeitsmarkt

Das Netzwerk besteht aus den Arbeitsgruppen «Expert:innen in eigener Sache», «Bildungsorte/Dozent:innen aus Hochschulen» und «Arbeitgeber:innen». Diese haben von 2021 bis 2022 das Argumentarium zur Öffnung der Hochschule entwickelt. 2023 erarbeiten die Arbeitsgruppen Guidelines für die Umsetzung von Inklusion an der Hochschule. Alle Arbeiten tragen zur Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention bei.

Publikation

Das Netzwerk hat das Ergebnis seiner vierjährigen Arbeit in Form von Argumenten, Qualitätsaspekten und Leitfragen zur Öffnung der Hochschule für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung veröffentlich und zugänglich gemacht. 

Die Argumente präzisieren das in der UN-Behindertenrechtskonvention formulierte Recht auf lebenslanges Lernen. Die Leitfragen unterstützen Hochschulangehörige und Arbeitgebende, den Prozess in Richtung inklusiver Hochschule zu gestalten. 

Zur Orientierung in der umfangreichen Publikation gibt es spezielle Einstiege für 

Schauen Sie rein: 

Zur digitalen Publikation

Argumentarium

Die fünf Argumente für die inklusive Bildung an der Hochschule wurden am Netzwerktreffen vom 2. September 2022 an der HfH diskutiert. Sie haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit und sie sind nicht als abschliessend zu deuten – nicht in Bezug auf die Öffnung der Hochschule für alle Interessierten. Aber auch nicht in Bezug auf Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung, die sich bekanntlich untereinander gar nicht so ähnlich sind, wie die Kategorie suggeriert.

(1) Die Öffnung der Hochschule für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung trägt zur Bildung für alle und zur Teilhabe von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung bei.

Die Öffnung der Hochschule für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung ermöglicht der Hochschule, ihre soziale Verantwortung wahrzunehmen und trägt zur Umsetzung des Rechts auf Mitsprache, auf Bildung und auf Lebenslanges Lernen für alle bei.

Die Hochschule übernimmt als Arbeitgeberin, als Bildungsinstitution und als Forschungs- und Entwicklungszentrum soziale Verantwortung. Die Hochschule kann zusammen mit den Studierenden und den Mitarbeitenden durch die gelebte Inklusion relevante Kompetenzen entwickeln, welche es im Umgang mit Inklusion in der Arbeitswelt braucht.

Menschen mit Beeinträchtigungen können durch die Öffnung der Hochschule interessegeleitet Ausbildungen wählen und werden durch das Studium in ihrem Selbstvertrauen gestärkt. Sie lernen, ihre Kompetenzen einzubringen und können eine tragende Rolle in der Gesellschaft übernehmen.

Zitate aus den Arbeitsgruppen:

  • «Ich habe nun etwas das man sieht. Ich konnte mich beweisen. Ich habe meine Kompetenzen selbst aufgebaut. Man muss Menschen Gelegenheit geben, diese Selbstsicherheit und Kompetenzen zu entwickeln. Im «vorigen Leben» (vor dem Hochschulprogramm) war keine Inklusion da, ich musste viel mit den Händen arbeiten und nicht mit dem Kopf. Das fehlte mir mega. Ich fand, das kann es doch nicht sein! Ich bin 34, ich will auch etwas anderes machen und ich will den Kindern etwas geben.» (Expert:in in eigener Sache)
  • «Ich schreibe als Sozialforscher:in Tagebuch und bekomme Aufträge für einen Vortrag. Thema ist Behinderung und ich gehe in den Hochschulunterricht und stelle meine Gedanken vor. Ich zeige meine Gefühle. Jemand, der eine Frage hat, kann diese Frage stellen.» (Expert:in in eigener Sache)

(2) Die Öffnung der Hochschule für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung ermöglicht allen beteiligten Menschen in einer inklusiven Gemeinschaft zu lernen.

Die Öffnung der Hochschule für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung ermöglicht, dass elementare und fundamentale Bildungsinhalte

  • für alle zugänglich,
  • für alle kommunikativ anschlussfähig,
  • mit unterschiedlichen Zielsetzungen
  • und auf unterschiedliche Arten vertieft werden.

Dies führt zur Erweiterung von Wissen und Können aller Beteiligten. Im Miteinander kann in gemeinsamen Seminaren, Veranstaltungen und in inklusiven Forscher:innengruppen neues Wissen erarbeitet werden, ohne Fokus auf Defizite. In Folge der sehr unterschiedlichen Denkweisen kann so etwas noch nie dagewesenes Neues entstehen.

Dozierende qualifizieren sich durch die Gestaltung von inklusiven Lernumgebungen weiter. Sie übernehmen Verantwortung für ein heterogenitätssensibles Lernsetting und gestalten Entwicklungslogische Didaktik für die Hochschule. In Studiengängen im Bildungsbereich ergeben sich somit didaktische Doppeldecker. Das meint, dass angehende Bildungsfachleute für inklusiven Unterricht an der Hochschule als Lernende selbst Erfahrungen im inklusiven Unterricht machen können. Die Umsetzung eröffnet allen Studierenden Perspektiven, wie Spielen, Lernen, Arbeiten in Kooperation in Gruppen möglich und fruchtbar ist.

Zitate aus den Arbeitsgruppen:

  • «Das Lernen hört nie auf. Lernen heisst forschen, sprechen und miteinander über Dinge nachdenken. Es kann darum gehen, darüber nachzudenken, wie Behinderungssituationen entstehen und wie man damit umgehen kann. Wo sind die Barrieren, wie kann man sie abbauen? In der Lehre mit Expert:innen in eigener Sache lernen Studierende Dinge, welche sie in ihrem Alltag nicht lernen können» (Dozent:in Hochschule)
  • «Wenn mich jemand fragt: Was machst denn du? – Dann sage ich: Ich studiere an der pädagogischen Hochschule Unterstrass. Dann fragen sie: Ja wie geht denn das? Ich sage: Ja, ich gehe da in die Schule und lerne, wie das geht. Ganz einfach. Ich bin ein Teil davon.» (Expert:in in eigener Sache)

(3) Die Öffnung der Hochschule für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung ermöglicht sinnstiftende Begegnungen in gemeinsamen Tätigkeiten zwischen unterschiedlichen Menschen.

Die Öffnung der Hochschule für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung ermöglicht Begegnungen und Dialog zwischen allen Beteiligten in unterschiedlichen Situationen, wie Vorlesungen, in Gruppenarbeiten, während der Pausen, beim Mittagessen, in der Studienwoche oder bei Anlässen für Mitarbeitende.

Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung erfahren in ihrem Leben eine Behinderung der Begegnungen und Kontaktmöglichkeiten mit Mitmenschen. Studierende und Mitarbeitende an der Hochschule erzählen, dass sie vor dem Studium noch keinen Kontakt mit Menschen mit Beeinträchtigungen hatten. Inklusion an der Hochschule hilft Berührungsängste –auch in künftigen Arbeitsfeldern – abzubauen. Diese Erfahrung kann als Türöffner dienen, sich im Team auf mögliche Barrieren zur Teilhabe einzulassen.

Zitate aus den Arbeitsgruppen:

  • «Gemeinsam an der Hochschule zu unterrichten macht Spass. Wir sind am Abend glücklich. Hei, es war ein schöner Tag. Wir machen das zusammen im Kurs. Beispielsweise war das Thema Was ist normal und was ist nicht normal. Es war spassig und spannend.» (Expert:in in eigener Sache)
  • «Am Anfang im Hochschulprogramm war ich recht scheu, aber ich habe viel an Selbstsicherheit gelernt. Ich habe drei Jahre lang viel gelernt. Und meine 50 Mitstudierende haben mir auch viel geholfen, ich war nicht alleine. Wir waren miteinander da. Darum machte ich das.» (Expert:in in eigener Sache)

(4) Die Öffnung der Hochschule für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung fordert die beteiligten Menschen auf, Diversität und Inklusion zum Lerngegenstand zu machen.

Die Öffnung der Hochschule für Menschen mit (kognitiver) Beeinträchtigung gibt Raum für Dialog und fordert auf, die Frage nach der Gleichheit im Anderssein zu bearbeiten und zu beantworten. Damit wird es der Organisation Hochschule ermöglicht zu lernen, wie sie Ungleiche(s) gerecht ungleich behandeln kann.

Durch die Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen ist das Thema Inklusion präsent, ihm kann nicht ausgewichen werden. Gegenseitige Akzeptanz und Anerkennung kann dadurch wachsen, dass durch unausweichliche Konfrontationen die Ebene der Vielfalt bei allen Beteiligten ins Bewusstsein kommt.

Zitate aus den Arbeitsgruppen:

  • «Was ist Selbstbestimmung? Was ist Fremdbestimmung? Bei euch allen. Da gehen wir nach Luzern, nach Muttenz, nach Zürich. Alle Menschen, bei denen wir Unterricht geben, fragen wir dies.» (Expert:in in eigener Sache)
  • «Nach einer gemeinsamen Weiterbildung (Expert:in in eigener Sache und Dozent:in Hochschule) bekomme ich von den Teilnehmende die Rückmeldung, dass das Thema Inklusion, Selbstbestimmung und Teilhabe nun fassbarer für sie sei. Die Anwesenden sind berührt durch die Begegnung und können Berührungsängste abbauen.» (Dozent:in Hochschule)

(5) Die Öffnung der Hochschule für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung befördert die Reduktion von Barrieren und die Entwicklung von inklusiven Strukturen.

Die Öffnung der Hochschule für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung führt zur Identifikation und zum Umbau von institutionellen Barrieren: Abbau hier, Neubau dort. Dies erhöht die Reaktions- und Anpassungsfähigkeit der Hochschule an neue Benachteiligungssituationen.

Die Entwicklung inklusiver Strukturen erfordert eine organisationale Auseinandersetzung mit tradierten Selbstverständlichkeiten, Normen und Standards. Ziel, Zweck und Berechtigung der Hochschule wird durch die Präsenz von Menschen mit Beeinträchtigungen in Frage gestellt. Dabei werden Widersprüche wie beispielsweise Fördern vs. Selektion, Gleichbehandlung vs. Andersbehandlung und gleiche Ziele vs. Zieldifferenz zum Gegenstand gemacht.

Die Dozierenden werden mit der Notwendigkeit konfrontiert, den Unterricht entwicklungslogisch und im universalen Design zu gestalten. Sie setzen sich mit ihrer eigenen Rolle in der Hochschule und deren Weiterentwicklung auseinander.

Die Umsetzung von Inklusion an der Hochschule kann zu einer besseren Passung von Arbeitswelt und Ausbildung führen. Alle Hochschulabsolvent:innen können als Multiplikator:innen ihre Kompetenzen im Umgang mit Inklusion vermitteln und im Beruf weiterentwickeln.

Zitat aus den Arbeitsgruppen:

  • «Sie waren an der Hochschule alle etwas vorsichtig. Sie wissen nicht, was sie sagen sollen. Es gibt ganz viele Leute, die immer kommen und sagen: Kann ich dir helfen? Ich sage ihnen jeweils: Ich sage euch schon, wenn ich Hilfe brauche.» (Expert:in in eigener Sache)

Weitere Informationen

  • Expert:innen in eigener Sache und Angehörige, Menschen in Leitungspositionen, Dozierende und Studierende aus Hochschulen sowie Vertreter:innen aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern haben die gewichtigsten Argumente für eine Öffnung der Hochschule zusammengetragen und geordnet.
  • «Inklusive Bildung an der Hochschule» ist weitaus mehr, als Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung den Zugang zur Hochschule zu ermöglichen. So ist beispielsweise «Studieren mit Behinderung» ein Feld, in dem seit Jahren für einen chancengerechten Hochschulzugang für Menschen mit Beeinträchtigungen gekämpft wird.
  • Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung haben begrenzte Möglichkeiten in der Berufswahl und ein eingeschränktes Weiterbildungsangebot. Häufig sind die Angebote auf eine Arbeitstätigkeit mit den Händen beschränkt. Sie werden vom Lebenslangen Lernen weitgehend ausgeschlossen.
  • Das Hochschulprogramm «écolsiv» hat aufgezeigt, dass die Öffnung der Hochschule mit einer der Institution Staatsschule inhärenten Logik bricht: der Meritokratie: Zieldifferentes Lernen an der Hochschule geht über den Nachteilsausgleich hinaus. Es sprengt Kulturen, Strukturen und Praktiken der Hochschule. Deshalb ist es wichtig, argumentativ zu begründen, was möglich wird, wenn zieldifferentes Lernen an der Hochschule eingeführt wird. 

Ich leite das Projekt «stark3». Inklusion als systemischer Anspruch geht weit über die Schule hinaus.

Prof. Cornelia Müller Bösch

HfH

Deuss Chantal Jacira

Ich leite das Projekt «stark3». Eine Hochschule für Alle heisst nicht, dass alle Menschen einen Tertiärabschluss brauchen. An einer offenen Hochschule lernen wir von- und miteinander mit dem Ziel einer inklusiveren Gesellschaft.

Chantal Deuss, lic. rer. soc.

HfH

Machen Sie mit. Wollen Sie über die Arbeit und Treffen des Netzwerks für inklusive Bildung an der Hochschule informiert werden? Möchten Sie mitdenken und mitarbeiten? Dann schreiben Sie an starkhochdrei [at] hfh.ch.

Nächstes Netzwerktreffen: Samstag, 6. September 2025, 9.00 - 13.00 an der HfH