Wissen, was wirkt!

Tagungsrückblick

Bei der Förderung sollten Lehr- und Fachpersonen neben ihrem Erfahrungswissen auch auf Erkenntnisse aus der Forschung zurückgreifen. Was das konkret bedeutet, wurde an der Tagung «Evidenzbasierte Diagnostik und Förderung bei Lernschwierigkeiten» vom 16. November 2024 diskutiert.

Kontakt

Priska Hagmann-von Arx Titel Prof. Dr.

Funktion

Professorin für Lernprozesse und Lernentwicklung unter erschwerten Bedingungen

Oliver Hengartner Titel MA

Funktion

Advanced Lecturer

Zuerst Diagnostik, dann Förderung. Der 10-jährige Ibo hat Mühe, sich auf den Unterricht zu konzentrieren und Schwierigkeiten beim Schreiben, insbesondere der Rechtschreibung. Mal schreibt er «Bäume», drei Sätze später wieder «Beume», für Ibo ist es dasselbe. Die Klassenlehrerin und der Schulische Heilpädagoge diskutieren: Wie soll die spezifische Förderung von Ibo aussehen? Was braucht er? «Die Frage, was ein Schüler wie Ibo braucht, ist aber schon der zweite Schritt», sagt Priska Hagmann-von Arx, HfH-Professorin und Co-Tagungsleiterin. Die erste Frage müsse immer lauten: Was hat dieser Schüler? «Im Schulalltag kommt eine sorgfältige Diagnostik oft zu kurz», erklärt sie, «weil häufig schlicht die Zeit fehlt.» Doch die Expertin für Lernprozesse betont: «Erst nach einer sorgfältigen Diagnostik kann eine wirkungsvolle Förderung geplant und umgesetzt werden.»

Drei Aspekte von Evidenz. In diesem Zusammenhang fällt immer wieder der Begriff «evidenzbasiert». Damit meint man gemeinhin eine wissenschaftlich nachgewiesene Wirksamkeit. Doch diese Definition greife zu kurz, meint HfH-Professor Fabio Sticca: «Für eine wirkungsvolle Diagnostik und Förderung müssen drei Formen von Evidenz unterschieden und beachtet werden: die interne Evidenz, die soziale Evidenz und schliesslich die externe Evidenz.»

Vier Expert:innen der HfH beleuchten die Aspekte von Diagnostik und Förderung, inbesondere in den Bereichen Mathematik und Rechtschreibung: Priska Hagmann-von Arx (im Bild), Marianne Walt, Brigitte Hepberger und Fabio Sticca.

Die Erfahrung der Fachpersonen. Die interne Evidenz umfasst die eigene Erfahrung und das Professionswissen. Beides sind wichtige Steuerungsfaktoren im heilpädagogischen Handeln. Im Fall von Ibo sieht der Schulische Heilpädagoge, dass der Knabe Mühe mit der Erkennung von Wortstämmen hat. «Bäume» stammt von «Baum» ab und wird deshalb mit «äu» geschrieben – und zwar immer. Deshalb vertieft er mit Ibo das Trainingsprogramm, das die ganze Klasse zu den Wortstämmen durchführt. Das machen er und die Klassenlehrerin schon seit Jahren. Und sie haben damit gute Erfolge erzielt. «Die interne Evidenz ist in der heilpädagogischen Praxis gut etabliert», sagt Fabio Sticca und schränkt sogleich ein: «Aber es braucht mehr als das Erfahrungswissen.»

Die Bedürfnisse des Kindes. Der zweite Aspekt von Evidenz wird als soziale Evidenz bezeichnet. Damit ist gemeint, dass die individuellen Bedürfnisse und Ressourcen des Kindes berücksichtigt werden. So zum Beispiel: In welchem Setting soll das Trainingsprogramm mit Ibo durchgeführt werden? Wegen seinen Konzentrationsschwierigkeiten wäre eine kleine Gruppe hilfreich. Doch Ibo hat es klar geäussert: Er will den Klassenverband nicht verlassen. Das gilt es ernst zu nehmen und eine Lösung zu suchen, die Ibo nicht als ausgrenzend empfindet. Die soziale Evidenz sei ein wichtiger Aspekt einer guten Förderplanung, betont Fabio Sticca: «In der Praxis ist er aber nicht immer gegeben.»

Die Befunde der Wissenschaft. Bleibt die externe Evidenz. Diese ist dann gegeben, wenn eine bestimmte Massnahme – etwa das besagte Förderprogramm zur Rechtschreibung – eine theoretische Basis hat und seine Wirkung in der Praxis empirisch nachgewiesen ist. Hier sieht Fabio Sticca am meisten Luft nach oben. «Lehrpersonen müssen mehr wissen, was wirkt», betont der HfH-Professor: «Ziel ist es, dass sie beim förderdiagnostischen Handeln alle drei Aspekte von Evidenz einbeziehen.»

Web-Plattform der HfH. Das Problem: Schulische Heilpädagog:innen und Klassenlehrpersonen haben neben ihrer Tätigkeit kaum Zeit, sich mit empirischen Studien und theoretischer Fundierung von Unterrichts- und Fördermaterialien auseinanderzusetzen. «Das ist auch nicht ihr Kerngeschäft», meint Tagungsleiterin Priska Hagmann-von Arx, «und es braucht spezifisches Know-how, um sich hier einen Überblick zu verschaffen.» Deshalb hat die HfH-Professorin zusammen mit ihrem Team eine webbasierte Datenbank entwickelt, auf der zahlreiche Förderprogramme vorgestellt und aufgrund ihrer externen Evidenz beurteilt werden. «Wissen, was wirkt!», so nennt sich diese Plattform, oder kurz: «WiWaWi». Damit können Fachleute in der Praxis prüfen, ob eine bestimmte Fördermassnahme, welche sie aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung einsetzen, auch eine theoretische und empirische Basis hat. Zur Plattform «Wissen, was wirkt!»

Die Tagung «Evidenzbasierte Diagnostik und Förderung bei Lernschwierigkeiten» fand am 16. November 2024 in Zürich statt. Die Impulsreferate und ein Teil der Workshops wurden online übertragen. Die Tagung war ein Anlass des Instituts für Lernen unter erschwerten Bedingungen und wurde von Prof. Dr. Priska Hagmann-von Arx und Oliver Hengartner, MA, geleitet.

Autoren: Dominik Gyseler, Dr. und Steff Aellig, Dr., HfH-Wissenschaftskommunikation (November 2024)