ReProPrax – Reflexive Professionalisierung zwischen Praxeologie und Berufsbiografie in der Heilpädagogik. Pilotstudie.

Kategorie Projekt

Ausgangslage und Ziele

Das empirisch-qualitativ ausgerichtete Forschungsprojekt zielt darauf, biografische Selbstreflexion nach Gudjons, Wagener-Gudjons und Pieper (2020) im Kontext der Hochschule mit Studierenden durchzuführen und dabei zu untersuchen, welche Erlebens- und Erkenntnisprozesse von den Studierenden in Bezug auf die Selbsterfahrungseinheiten beschrieben werden und wie sie das Erlebte in ihren individuellen heil- und sonderpädagogischen Professionalisierungsprozess einordnen. Eine gruppendynamische Adaption der Übungen ist ein weiteres Ziel, sowie die Verknüpfung von berufsbiografischer Selbstreflexion und Kasuistik. Die biografische Selbstreflektion soll im Rahmen der kasuistischen Ausbildung bei Studierenden an unterschiedlichen Hochschulstandorten durchgeführt werden.

Projektleitung

Pierre-Carl Link Titel Prof.

Funktion

Professor für Erziehung und Bildung im Feld sozio-emotionaler und psychomotorischer Entwicklung

Fakten

  • Dauer
    06.2022
    12.2022
  • Projektnummer
    2_23

Projektteam

  • Noëlle Behringer
  • Robert Langnickel
  • Agnes Turner
  • Jean-Marie Weber

Ausgangslage und Ziele

Biografie kann als lebenslanger Prozess der Aufschichtung und Interpretation von bewussten und unbewussten Erfahrungen verstanden werden, der das gegenwärtige Handeln prägt (Gudjons et al., 2020, S. 21) und somit auch Einfluss auf pädagogisches (Inter-)Agieren nimmt. Biografiearbeit als methodisch organisierte berufsbiografische Selbstreflexion und inzwischen anerkannter hermeneutisch-sinndeutender Forschungsansatz der Sozialwissenschaften kann dazu beitragen, Sinnzusammenhänge biografischer Erfahrungen herzustellen, «Regeln» der Sinnherstellung zu rekonstruieren, Selbstverstehen anzuregen und zukünftige Handlungs-perspektiven zu erarbeiten. Dabei werden über individuelle Momente hinaus auch gesellschaftliche, kulturelle und soziale Bedingungen des Lebens und Erlebens reflektiert, wodurch das Verstehen gesellschaftspolitischer Prozesse möglich wird (Gudjons et al., 2020, S. 13-16). Für die pädagogische Arbeit postulieren Gudjons et al. (2020), dass über die biografische Selbstreflexion eine einfühlsam-verstehende respektive mentalisierende Haltung sich selbst gegenüber, aber auch den jungen Menschen in Schwierigkeiten gegenüber entwickelt werden kann, da das Wissen um die eigene Geschichte, destruktive Übertragungsprozesse (also die Übertragung eigener Anteile und eigener unverarbeiteter Konflikte auf junge Menschen) als solche erkennen lässt. Dies erscheint nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil pädagogische Fachpersonen wie Lehrpersonen, SHP usw. es immer mit dem «Diktum der zwei Kinder» (Bernfeld, 1925) zu tun haben: Dem Kind, das vor ihnen steht und dem inneren, verdrängten Kind in ihnen (Fatke, 2022). Mit dieser rekursiven Figur des inneren Kindes und den Implikationen für die pädagogische Arbeit bereitete Bernfeld der Forderung einer biografisch-selbstreflexiven Pädagogik bereits früh einen Weg (Trescher, Büttner & Datler, 1993). Dass die selbstreflexive und berufsbiografische Arbeit als wichtiger Bestandteil von Professionalisierungsprozessen verstanden werden kann, wird gemeinhin, etwa von Nentwig-Gesemann (2011) sowie von Helsper (2021) damit begründet, dass die genannten Erfahrungen als Resonanzboden das Zusammensein mit anderen Menschen, so auch mit den Kindern und Jugendlichen in Schwierigkeiten prägen. Helsper (2021), Bohnsack (2020) und Kraimer (1994) beschreiben diesen Prozess als Teil einer (berufs-)biografischen Prozessperspektive der Herausbildung von Professionalität im Lebenslauf. In diesem Prozess wird eine eigenständige berufliche Identität begründet und entwickelt, in dem sich Wissensbeständen, Orientierungen, Motiven und Praxen als individuelle Voraussetzung für die Ermöglichung von Professionalität in bestehenden institutionellen Rahmungen herausbilden. Das als Anschubprojekt geplante Forschungsprojekt setzt hier an und untersucht in einem ersten Schritt, wie diese theoretischen Überlegungen methodisch nach den Ausführungen von Gudjons et al. (2020) für Studierende in (heil- und sonder)pädagogischen Studiengängen umsetzbar sind und welche Erlebensweisen und Erkenntnisse Studierende hierdurch beschreiben.

Die Hauptforschungsfrage besteht darin, inwieweit berufsbiografische Selbstreflexionsprozesse dazu beitragen können, biografische Momente, welche die pädagogische Praxis determinieren, zu identifizieren. Diese biografischen Momente entfalten im Wesentlichen unbewusst ihre Wirkungen auf die pädagogische Praxis. Dieses Identifizieren und Bewusstwerden der Wirkungen der eigenen Biografie ist als Prozess der Selbstaufklärung und Selbstreflexion zu verstehen. Diese Selbstreflexion ermöglicht die zumindest partielle Emanzipation von den Wirkmächten unreflektierter biografischer Ereignisse. Diese Bewegung der Selbstreflexion und Emanzipation wird im Folgenden näher beschrieben.

Für das Forschungsvorhaben wurde eine Anschubfinanzierung bewilligt. Im Rahmen des Projektes wird zunächst qualitativ-inhaltsanalytisch die Umsetzung der Konzeptualisierung von Biografiearbeit nach Gudjons untersucht werden. Das Datenmaterial soll in einem Anschlussprojekt tiefenhermeneutisch und dispositivanalytisch ausgewertet und um Daten aus Selbsterfahrungsgruppen nach der Konzeptualisierung von Mattke und Otten (2020) bzw. Rogal (2009) und nach Ansätzen der strukturalen Psychoanalyse in der lacanianischen Tradition ergänzt werden. Hieraus soll perspektivisch ein Grossforschungsprojekt mit dem Titel «Reflexive Professionalisierung (heil-)pädagogischer Fachpersonen durch biografische Selbsterfahrung» entstehen. In der Reflexion von möglichen unbewussten Übertragungsprozessen und «blinden Flecken» wird die Praxisrelevanz gesehen. Das Forschungsprojekt wird ausserdem in der theoretischen Auseinandersetzung zu Professionalisierung und Selbstreflexion verortet und will einen psychodynamischen Beitrag zum gegenwärtigen Diskurs leisten. Des Weiteren wird die Praxeologie als Leitbegriff der Heil- und Sonderpädagogik systematisch verortet.

Methodisches Vorgehen

Das Forschungsprojekt wird mit einem qualitativen Forschungsdesign durchgeführt. Zur Datengewinnung werden zunächst zehn Sitzungen biografische Selbsterfahrung nach Gudjons et al. (2020) mit Studierenden unterschiedlicher Studiengänge an den drei Standorten in der Schweiz und Deutschland (Zürich, Darmstadt und Ludwigsburg) durchgeführt. Auf diese Weise soll eine Vielfalt der Hochschulsettings, Studienmodellen (berufsbegleitend Teilzeit sowie Vollzeit) und Teilnehmenden gewährleistet werden. Die Gruppengrösse wird dabei auf 6-8 Studierende festgesetzt. Die eigentliche Datenerhebung erfolgt im Anschluss an die zehn 90minütigen Sitzungen durch leitfadengestützte Interviews sowie Gruppeninterviews innerhalb der jeweiligen Selbsterfahrungsgruppe. Dem Prinzip der Partizipation von Forschungssubjekten folgend, können die Studierenden hierbei eine der beiden oder beide Interviewformen wählen. Der Leitfaden für die Interviews wird gemeinsam im Projektteam erarbeitet und leitet sich von den theoretischen Überlegungen von Gudjons et al. (2020), Balint (2001), Mattke und Otten (2020) und Prengel (2019; 2013) ab. Die Interviews werden von dem Transkriptionsanbieter «Abtipper.de» (DSGVO-konform) nach dem vereinfachten Transkriptionssystem von Dresing und Pehl (2011) transkribiert. Die Datenauswertung der Transkripte erfolgt zunächst anhand der inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2016) mit induktiver Kategorienbildung, um die Erlebensweisen und Erkenntnisprozesse der Studierenden erfassen zu können. Die Kodierung des Materials wird im Projektteam konsensuell validiert, um die intersubjektive Nachvollziehbarkeit gewährleisten zu können.

Erwartete Ergebnisse und weiteres Vorgehen

Folgende Fragestellungen werden mit dem Projekt verfolgt:

  • Wie erleben Studierende das kontinuierliche Selbsterfahrungsangebot, das in Form von moderierten Übungen die biografische Selbstreflexion anregen soll?
  • Welche Erkenntnisse beschreiben die Studierenden im Hinblick auf das Erlebte?
  • Wie ordnen die Studierenden die Selbsterfahrung in ihren individuellen Professionalisierungsprozess ein?
  • Inwieweit bestehen Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Schilderungen zwischen den Studierenden unterschiedlicher Studiengänge?

Innerhalb des Projektteams wird zudem der Frage nachgegangen werden, welche Übungen der Biografiearbeit nach Gudjons et al. (2020) für den jeweiligen Hochschulkontext geeignet scheinen und wie diese in psychodynamische Theorien zu Selbstreflexion, Selbsterfahrung und Reflexiver Professionalisierung von angehenden heil- und sonderpädagogischen Fachpersonen verortet werden können. Das Projekt dient auch der zunehmend unter inklusiver Perspektive relevanten multiprofessionellen Zusammenarbeit, weil die Standorte unterschiedliche Professionen wie Soziale Arbeit, SHP, PMT, Lehrpersonen, Kindheitspädagog:innen, ausserschulische Sonderpädagog:innen adressiert.

Das Forschungsprojekt ist als Anschubprojekt für ein anschliessendes (tiefen-)hermeneutisch ausgerichtetes Forschungsprojekt zu biografischer Selbsterfahrung für Studierende pädagogischer Studiengänge konzeptualisiert. Das qualitativ-empirische Vorgehen ist ein hypothesenbildendes Verfahren. An seinem Ende stehen Hypothesen für das beforschte Feld, die dann ein daran anschliessendes mixd-methods Design erlauben, das auch eine quantitative Vorgehensweise einschliessen könnte.

Mit der Hauptforschungsfrage, der Möglichkeit der Identifikation von biografischen Elementen, welche ihre Wirkungen auf die pädagogische Praxis zeigen, sind folgende Teilziele verbunden:

  • Auswahl von Übungen der Biografiearbeit nach Gudjons et al. (2020) die für den jeweiligen Hochschulkontext geeignet scheinen;
  • Verortung der Übungen von Gudjons in psycho- und gruppendynamischen Theorien zu Selbstreflexion, Selbsterfahrung und Reflexiver Professionalisierung von angehenden heil- und sonderpädagogischen Fachpersonen (peer-reviewte Publikation);
  • Durchführung der Übungen von Biografiearbeit nach Gudjons mit den Studierenden;
  • Evaluation der Übungen zur Biografiearbeit nach Gudjons und Publikation der Ergebnisse; sowie
  • Konzeption eines Weiterbildungsangebots (CAS-Modul) zur psycho- und gruppendynamischen Biografiearbeit und Kasuistik von Studierenden.

Publikationen